Der EIB-Index zur wirtschaftlichen Verwundbarkeit durch Covid-19
Eine Länderanalyse außerhalb der Europäischen Union
Covid-19 gibt nach wie vor viele Rätsel auf: Wir wissen weder, wie sich das Virus genau ausbreitet, noch warum es in einigen Ländern sehr viele Todesopfer fordert und in anderen weniger. Auch, wann es einen Impfstoff geben wird, ist noch unklar.
Was wir aber wissen: Das Virus und die Lockdowns haben dramatische Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. Die Coronakrise ist in ihrem Ausmaß bisher einzigartig. Sie lässt Angebot und Nachfrage schrumpfen, sie schafft enorme Unsicherheit, und sie verändert nachhaltig Verbraucherpräferenzen und Produktion. Sie legt unsere Schwachstellen offen und stellt uns täglich vor neue Probleme. Kaum ein Ereignis hat das Wirtschaftswachstum bisher so stark belastet wie Corona.
Um diese Belastungen besser zu verstehen, hat unsere Hauptabteilung Volkswirtschaftliche Analysen einen Index entwickelt, der anhand bestimmter Wirtschaftsindikatoren misst, wie verwundbar Länder durch die Krise sind. Der Index erfasst Länder außerhalb der Europäischen Union und zeigt, welche Regionen am meisten Hilfe benötigen. Niedrigeinkommens- und Entwicklungsländer sind bei Krisen oft besonders verwundbar.
Die Europäische Investitionsbank beteiligt sich aktiv an der weltweiten Hilfe für die Hauptleidtragenden der Pandemie. Wir stärken Volkswirtschaften und Gesundheitssysteme und kämpfen gleichzeitig für einen intelligenten und grünen Wiederaufbau.
Was ist der Index zur wirtschaftlichen Verwundbarkeit durch Covid-19?
Der Index zur wirtschaftlichen Verwundbarkeit durch Covid-19 misst drei Faktoren, die besonderen Einfluss darauf haben, wie gut eine Volkswirtschaft die coronabedingten Belastungen verkraftet.
- Qualität der Gesundheitsversorgung und Alter der Bevölkerung. Volkswirtschaften mit einer älteren Bevölkerung und einem schlecht funktionierenden Gesundheitssystem sind oft anfälliger für die gesundheitlichen Auswirkungen der Pandemie.
- Wirtschaftsstruktur. Hier fließen verschiedene Risikofaktoren ein: die Integration in die globalen Wertschöpfungsketten, die Exportabhängigkeit, etwa bei Brennstoffen, Metallen und Erzen, die Einnahmen aus dem Tourismus sowie Rücküberweisungen von Menschen in ihr Herkunftsland.
- Gefährdungsgrad und Fähigkeit, auf Schocks zu reagieren. Zu den untersuchten Schocks gehört unter anderem die Umkehr von Kapitalflüssen. Volkswirtschaften mit großen Leistungsbilanzdefiziten, denen keine ausländischen Direktinvestitionen gegenüberstehen, müssen ihren verbleibenden externen Finanzierungsbedarf mit schwankungsanfälligen Kapitalflüssen wie etwa Portfolioinvestitionen decken. Diese Kapitalflüsse sind gerade in Entwicklungs- und Schwellenländern deutlich zurückgegangen. Weiterhin wird untersucht, inwieweit Länder in der Lage sind, antizyklische fiskalpolitische Maßnahmen zu ergreifen, wie stabil der Bankensektor ist und inwieweit er eine Erholung von der Krise unterstützen kann.
Der Index unterscheidet drei Kategorien der Verwundbarkeit: gering, mittel und hoch. Diese Kategorien sind relativ, das heißt die Länder mit der geringsten Verwundbarkeit können durch das Virus dennoch schwer getroffen werden. Die Schwellenwerte des Index basieren auf der Einschätzung der zugrunde liegenden Wirtschaftsgrößen durch die Hauptabteilung Volkswirtschaftliche Analysen der EIB. Der Ansatz ist im Anhang genauer erläutert. Im Mittelpunkt der Analyse stehen Schwellen- und Entwicklungsländer außerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums und der Europäischen Union. Einzelheiten zu den verwendeten Daten und zum Aufbau des Index sind im Anhang des Berichts zum Index enthalten.
Was der Verwundbarkeitsindex nicht abbildet, ist die Entwicklung der Maßnahmen in einem Land oder der mögliche weitere Verlauf der Pandemie. Deshalb kann die Krise in Abhängigkeit von diesen beiden Faktoren selbst für Länder mit gleicher Verwundbarkeit andere Auswirkungen haben.
Die Abbildung unten zeigt, dass die Länder unterschiedlich schnell mit Eindämmungsmaßnahmen auf das Virus reagierten. Den Anfang machte Asien, Mitte März 2020 zogen dann Länder auf der ganzen Welt die Zügel an. Die strengsten Maßnahmen ergriffen im Schnitt die Nachbarregionen der Europäischen Union: die südliche und östliche Nachbarschaft, Zentralasien, die Türkei und der Westbalkan. In Subsahara-Afrika sowie in Asien waren die Maßnahmen meist weniger restriktiv, mit großen Unterschieden innerhalb der einzelnen Regionen. Anfang Juni begannen die meisten Länder, die Einschränkungen wieder zu lockern.
Globaler Überblick
Der Index zeigt, dass die Volkswirtschaften von Niedrigeinkommensländern durch die Coronapandemie hochgradig verwundbar sind. Von diesen Ländern fällt die Hälfte in die höchste Risikokategorie. Bei den Ländern mit mittlerem Einkommen sind es 25 Prozent. Hocheinkommensländer kommen dagegen selbst mit einem so beispiellosen globalen Schock besser zurecht. So sind unter den verwundbarsten Ländern nur zwei Hocheinkommensländer: Antigua und Barbuda sowie Bahamas. Allerdings weisen immerhin 56 Prozent der Länder mit hohem Einkommen ein mittleres Risiko auf. Bei den Ländern mit mittlerem Einkommen sind es 63 Prozent, bei den ärmsten Ländern die Hälfte.
In der Kategorie der höchsten Verwundbarkeit finden sich weder Länder des Westbalkans noch die Türkei. Allerdings fallen Albanien, Bosnien und Herzegowina sowie Serbien in die mittlere Kategorie. In der südlichen Nachbarschaft der EU gehört ein Land (Libanon) zu den verwundbarsten Ländern, die meisten anderen befinden sich im Mittelfeld. Die Länder in der östlichen Nachbarschaft und Zentralasien weisen mehrheitlich eine mittlere Verwundbarkeit aus, die beiden ärmsten (Kirgisistan und Tadschikistan) hingegen eine hohe.
Außerhalb der unmittelbaren Nachbarschaft der Europäischen Union sind Subsahara-Afrika sowie die karibischen und pazifischen Staaten die verwundbarsten Regionen.
Rund die Hälfte der Länder in Afrika, der Karibik und im Pazifischen Ozean zählt zur Gruppe mit der höchsten Verwundbarkeit, fast alle anderen zur Mittelgruppe. In Lateinamerika und Asien finden sich nur wenige Länder in den Gruppen mit dem höchsten und niedrigsten Risiko. Die meisten liegen dazwischen. Dies spiegelt die Diversität beider Regionen wider, in denen vorwiegend Mitteleinkommensländer liegen, aber auch Niedrig- und Hocheinkommensländer.
Was macht Länder verwundbar?
Der Vorteil einer diversifizierten Wirtschaft
Starke Abhängigkeit von bestimmten Einnahmen macht verwundbar.
Wenig diversifizierten Volkswirtschaften drohen bei Krisen wie Covid-19 große Risiken. Die am stärksten gefährdete Gruppe umfasst mehrere Länder, die stark von Ölexporten oder vom Tourismus abhängen.
Die Preise der meisten nichtlandwirtschaftlichen Rohstoffe, ausgenommen vor allem Gold, sind eingebrochen, was ölexportierende Länder besonders hart getroffen hat.
In der östlichen Nachbarschaft der EU und in Zentralasien ist der Anteil der Länder, die aufgrund ihrer Rohstoffabhängigkeit besonders verwundbar sind, am höchsten. Dies zeigt die Abbildung weiter unten. Allerdings finden sich auch in allen anderen Regionen zahlreiche rohstoffabhängige Länder. Hierbei ist zu beachten, dass die Bedeutung des Risikofaktors Rohstoffabhängigkeit für ärmere Länder möglicherweise zu gering bewertet ist. Für einige dieser Länder gibt es keine oder nur unvollständige Daten, trotz Versuchen, dies zu kompensieren. Zusätzlich kann die Wirkung sinkender Exporteinnahmen in ärmeren Ländern durch die im Schnitt schwächere Kapazität ihrer Wirtschaftssysteme stärker auf die wirtschaftliche Stabilität durchschlagen. Ein Beispiel: Da die Rohstoffexporte in Nigeria geschätzt nur 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmachen, scheint das Land deutlich weniger gefährdet als viele reiche ölexportierende Staaten wie die Vereinigten Arabischen Emirate. Allerdings hat Nigeria ein äußerst schlecht funktionierendes Steuersystem – die Steuereinnahmen machen gerade einmal drei bis vier Prozent des BIP aus. Und außer Öl hat das Land kaum Möglichkeiten, Einnahmen zu generieren. Somit ist Öl für mindestens die Hälfte der staatlichen Einnahmen Nigerias verantwortlich. Durch den Ölpreiseinbruch sah sich das Land daher gezwungen, erhebliche Haushaltskürzungen für 2020 vorzunehmen und zum ersten Mal seit dem Jahr 2000 den Internationalen Währungsfonds (IWF) um Hilfe zu bitten.
Hohe Risiken für stark vom Tourismus abhängige Länder.
Die Pandemie und die damit verbundenen Reisebeschränkungen haben den Tourismus in vielen Ländern vollständig zum Erliegen gebracht. Zudem dürfte die globale Rezession die Einnahmen aus diesem Geschäft auch lange nach der Aufhebung der Beschränkungen noch schmälern. Einige der betroffenen Länder sind sehr stark gefährdet – sie erwirtschaften bis zu 60 Prozent ihres BIP durch den Tourismus. Die Abhängigkeit von diesen Einnahmen ist gerade in den Karibik- und Pazifikstaaten ein wunder Punkt. Mehr als zwei Drittel von ihnen sind durch einen Einbruch der Touristenzahlen hochgradig verwundbar, lediglich Trinidad und Tobago und Papua-Neuguinea sind nur gering gefährdet. Mindestens fünf Länder der Region erwirtschaften über ein Drittel ihres BIP aus dem Tourismus. Im Westbalkan sind Albanien, Bosnien und Herzegowina sowie Montenegro durch wegbrechende Einnahmen aus Tourismus, Heimatüberweisungen oder beidem sehr verwundbar.
In der östlichen Nachbarschaft und in Zentralasien trifft ein Rückgang des Tourismus vor allem Jordanien und Libanon. Sie gehören zur höchsten Risikogruppe. Marokko, Tunesien und Ägypten weisen ein mittleres Risiko auf. In Asien, Lateinamerika und Subsahara-Afrika sind mehrere Länder hochgradig oder moderat vom Tourismus abhängig. Analog zu den Rohstoffeinnahmen gilt auch hier: Die inhärente Schwäche des Wirtschaftssystems ärmerer Länder könnte die Wirkung eines Rückgangs der Deviseneinnahmen als Folge des einbrechenden Tourismus noch verstärken.
Länder, in denen das verarbeitende Gewerbe auf Vorleistungen aus dem Ausland angewiesen ist, könnten verwundbarer sein, wenn an den dortigen Produktionsstandorten Lockdowns oder Ausgangssperren verhängt werden. Im Westbalkan gehört nur Nordmazedonien zu der Gruppe von Ländern, denen durch die Einbindung in die globalen Wertschöpfungsketten ein hohes Risiko droht (Abbildung 3). Die Türkei fällt auf Grundlage der verfügbaren Daten in die unterste Kategorie. In Lateinamerika befinden sich nur 20 Prozent und in Subsahara-Afrika 15 Prozent der Länder in der Gruppe, die durch globale Wertschöpfungsketten hoch- oder mittelgradig verwundbar sind.
Rücküberweisungen in die Heimat waren in früheren Wirtschaftskrisen eine Stütze. 2020 dürften diese Gelder allerdings um mehr als 100 Milliarden US-Dollar sinken, schätzt die Weltbank – mit entsprechenden Folgen für die Länder, die auf diese Einnahmequelle angewiesen sind. Mehrere karibische und pazifische Staaten werden diesen Rückgang zu spüren bekommen – zusätzlich zu dem Schock aufgrund der wegbrechenden Tourismuseinnahmen. Am stärksten gefährdet ist Tonga, wo Rücküberweisungen im Jahr 2019 insgesamt 41 Prozent des BIP ausmachten. Auch mehrere Länder in der östlichen Nachbarschaft und in Zentralasien sind in dieser Hinsicht hochgradig gefährdet (vor allem im Zusammenhang mit Überweisungen aus Russland). Hierzu zählt Kirgisistan, wo mindestens ein Drittel des BIP auf Heimatüberweisungen entfällt.
In der südlichen Nachbarschaft gehören fast 40 Prozent der Länder zur Gruppe mit der höchsten Verwundbarkeit. In Asien, Lateinamerika und Subsahara-Afrika ist die Abhängigkeit von Heimatüberweisungen offenbar geringer. Doch auch in diesen Regionen sind Überweisungen für viele Länder eine wichtige Einkommensquelle. Hierbei ist zu beachten, dass informelle Überweisungen im Allgemeinen nicht registriert werden. Verschiedenen Studien zufolge sind diese in Lateinamerika und in Subsahara-Afrika häufiger als in anderen Regionen, sodass die Verwundbarkeit durch einen Rückgang der Überweisungen hier vermutlich unterbewertet ist.
Gesundheitsversorgung und Wirtschaftssysteme
Die Widerstandsfähigkeit des Wirtschaftssystems eines Landes und die Qualität seiner Gesundheitsversorgung sind entscheidende Faktoren für seine Verwundbarkeit durch Covid-19, wie die folgende Abbildung zeigt.
Widerstandsfähigkeit in der Nachbarschaft der Europäischen Union sehr unterschiedlich.
Die Länder im Westbalkan stehen vor einer schwierigen Situation im Gesundheitssektor, denn sie alle fallen bei diesem Risikofaktor in die höchste oder mittlere Kategorie. Hinzu kommt ihre alternde Bevölkerung. Beim Risikofaktor Kapitalabflüsse ist Bosnien und Herzegowina das einzige Land in der am stärksten gefährdeten Gruppe. Eine langwierige Krise bedroht in den Ländern des Westbalkans eher die Bankensysteme. Besonders hoch ist das Risiko in Albanien, Bosnien und Herzegowina sowie Montenegro. In der Kategorie öffentliche Verschuldung ist eine hohe Gefährdung dagegen weniger wahrscheinlich.
Die Verwundbarkeit der östlichen Nachbarländer und Zentralasiens sowie der südlichen Nachbarschaft beruht weitgehend auf ihren Bankensystemen und der Gefahr unkontrollierbarer Kapitalabflüsse. Dagegen ist das Gesundheitswesen in den östlichen Nachbarländern und in Zentralasien meist relativ gut entwickelt. Selbst Länder mit niedrigem Einkommen wie Kirgisistan und Tadschikistan weisen hier ein sehr geringes Risiko auf. In der südlichen Nachbarschaft fallen dagegen mehr als die Hälfte der Länder in dieser Kategorie in die höchste Risikogruppe.
Schwache Gesundheits- und Wirtschaftssysteme in Subsahara-Afrika und den karibischen und pazifischen Staaten erschweren Kampf gegen Probleme wie Covid-19.
Die Länder mit den niedrigsten Einkommen haben eine überproportional junge Bevölkerung. Dies sollte ihre Anfälligkeit im Gesundheitssektor gegenüber einkommensstärkeren Ländern senken. Der Faktor Jugend kompensiert allerdings nicht die geringere Behandlungskapazität der meisten Gesundheitssysteme in Subsahara-Afrika und Lateinamerika bei einer hohen Zahl von Covid-19-Fällen. Beim Risikofaktor öffentlicher Verschuldungsgrad liegt zwar nur ein relativ kleiner Anteil der Länder in diesen Regionen oberhalb des Schwellenwerts der höchsten Gefährdungskategorie. Tatsächlich aber ist ihre Schuldentragfähigkeit deutlich geringer als bei Ländern aus anderen Regionen. Beleg dafür ist der relativ hohe Anteil der Länder, die laut IWF bereits vor der Krise als stark überschuldungsgefährdet galten.
In den beiden Regionen sind 24 Länder entweder stark überschuldungsgefährdet oder derzeit überschuldet, weitere 16 werden als moderat gefährdet eingestuft. Das Überschuldungsrisiko steigt bereits durch die Coronakrise. Zum einen haben viele Länder aufgrund der Folgen von Covid-19 für das Gesundheitswesen und die Wirtschaft höhere Ausgaben, zum anderen brechen ihnen durch die wirtschaftliche Abkühlung und die sinkenden Rohstoffpreise die Einnahmen weg. Gleichzeitig müssen die Länder an den internationalen Kapitalmärkten höhere Zinsen zahlen oder haben in einigen Fällen den Zugang zur Marktfinanzierung bereits verloren. Beim Risikofaktor Kapitalabflüsse liegen von den karibischen und pazifischen Staaten relativ wenige in der höchsten Gefährdungsgruppe. In Subsahara-Afrika fallen dagegen viele Länder aufgrund ihrer Grundbilanzen in die höchste oder mittlere Risikogruppe.
Unterschiedliche Widerstandsfähigkeit in Lateinamerika und Asien.
Eine erhebliche Anzahl von Ländern in Lateinamerika und Asien gehört aufgrund der Kapazität ihrer Gesundheitssysteme und ihrer Anfälligkeit für Kapitalabflüsse zur Gruppe mit der höchsten Verwundbarkeit. Im Bereich der Bankensysteme sind die asiatischen Länder dagegen robuster – nur 18 Prozent finden sich hier in der höchsten Risikogruppe. Auch beim öffentlichen Verschuldungsgrad fallen in beiden Regionen nur wenige Länder in diese Gruppe. Allerdings weist der IWF für Afghanistan, Argentinien, Bhutan, Ecuador, Guyana, Laos, die Malediven, Nicaragua und Venezuela ein hohes oder moderates Überschuldungsrisiko aus.