EIB Präsident Werner Hoyer hielt am 9. November die Europa-Rede 2022 auf einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin nahe dem Brandenburger Tor.


Es gilt das gesprochene Wort


>@EIB

Lieber Botschafter Oleksij Makejew,

lieber Professor Norbert Lammert,

liebe Freundinnen und Freunde Europas,

Es herrscht Krieg in Europa.

Nie hätte ich gedacht, dass ich im 21. Jahrhundert diese Worte aussprechen müsste.

Heute sehen wir mit Entsetzen das Undenkbare: Die russische Armee hat einen verheerenden Angriff auf die Ukraine gestartet; auf eine souveräne europäische Demokratie.

Ukrainische Städte werden belagert. Zehntausende haben ihr Leben verloren, Hunderttausende wurden verwundet, und Millionen Menschen wurden zur Flucht gezwungen.

In der Nacht des 24. Februar ist die Welt eine andere geworden als sie es vor einer Generation war, als genau hier, vor genau 33 Jahren die Berliner Mauer fiel, und sich die Menschen aus Ost und West in den Armen lagen.

Die Welt ist auch eine andere geworden, als sie es vor einem Jahr war, als EU-Ratspräsident Charles Michel an diesem Ort die Europa-Rede zum 9. November hielt.

Charles Michel mahnte: Europa werde es nur dann gelingen, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts erfolgreich zu bewältigen, wenn es auf Einigkeit setzt, sowie eine globale Sicherheits- und Verteidigungsstrategie, Wohlstand, seine starke Handelskraft und auf Strategische Autonomie.

Wie sehr Charles Michel mit seiner Mahnung recht hatte, zeigt sich heute umso mehr, angesichts des Krieges, angesichts der Zeitenwende.

Als wir am Morgen des 24. Februar aufwachten und die Nachrichten vom Angriff Russlands auf die Ukraine hörten, waren wir erschüttert von der schieren Brutalität des Krieges.

Bomben auf Kiew.

Sirenengeheul in ukrainischen Städten.

Frauen, Kinder, Alte auf der Flucht.

Seither erfuhren wir von Massakern der russischen Armee an Zivilisten in Butscha – und nach und nach auch aus allen einst besetzten und jetzt zurückeroberten Gebieten im Osten und Süden der Ukraine. Massaker in Dimensionen, bei denen man sich die Frage stellen muss: Ist die Grenze zum Genozid bereits überschritten? 

Putins Brutalität nimmt zu, je erfolgreicher die tapferen Ukrainer seine Truppen zurückdrängen. Heute behauptet Russlands Diktator nicht einmal mehr, dass seine Bomben allein militärischen Einrichtungen gälten. Gezielt hat seine Armee in Kyiv kürzlich die Wasser- und die Stromversorgung zerstört.

Heute, am Jahrestag des Berliner Mauerfalls, muss jeder EU-Bürgerin und jedem EU-Bürger klar sein, warum die Ukrainer einen Diktatfrieden des Aggressors Vladimir Putin niemals akzeptieren können: Die Herrschaft des Eroberers heißt Terror. Sie heißt Folter. Sie bringt tausendfachen Tod.

Für mich und meine Kolleginnen und Kollegen in der Europäischen Investitionsbank war es vom ersten Tag der Invasion an selbstverständlich, dass wir den russischen Überfall auf die Ukraine scharf verurteilen. In Übereinstimmung mit den anderen EU-Institutionen – dem Europäischen Rat, der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament – haben wir sofort gehandelt.

Nur wenige Tage nach dem Einmarsch haben wir 668 Millionen Euro bereitgestellt, um den dringenden Liquiditätsbedarf der ukrainischen Regierung zu decken, auf Basis einer EU-Garantie … Mittel für Nahrungsmittel, Medikamente und Treibstoff.

Wenige Wochen später haben wir weitere 1,6 Milliarden zur Verfügung gestellt, um der Ukraine beim Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur zu helfen.

Außerdem unterstützen wir Europas Kommunen, die Flüchtlinge aufnehmen, mit weiteren 4 Milliarden Euro.

 

Lieber Botschafter Oleksij Makejew,

als EU-Bank, als Finanzierungsarm der Europäischen Union, hat die Europäische Investitionsbank der ukrainischen Regierung fest versprochen, dass wir beim Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur helfen werden. Wir werden damit nicht warten, bis der Krieg vorbei ist. Sondern wir werden den Wiederaufbau in allen Gebieten abseits der Front unterstützen, damit Leben und Wirtschaften so gut es irgend geht, in der Ukraine möglich bleibt.

Wir unterstützen die Ukraine aber nicht nur mit Blick auf die Wirtschaft, sondern auch aus ganz egoistischen sicherheitspolitischen Erwägungen.

Denn der russische Einmarsch in die Ukraine bedroht die Demokratie und den Frieden überall in Europa. Russland führt keinen Krieg „nur“ gegen die Ukraine. Dieser Krieg gilt ganz Europa und den freien, demokratischen Ländern auf dieser Welt. Dabei werden Energie und Hunger gezielt als Waffen eingesetzt. Politische Instabilität und Chaos sollen die Folge sein. Sollte Vladimir Putin einen Erfolg verbuchen können, und sei er noch so klein, dann ist das ein Sieg und eine Ermunterung für alle Autokraten … sei es in Russland, China oder dem Iran. Heute kämpfen die Ukrainer für uns alle.

Allem Leid und Schrecken dieses Krieges zum Trotz sollten wir aber auch die Chancen erkennen, die in der äußeren Bedrohung liegen:

Europa ist zusammengerückt.

Europa steht dem Aggressor geeint gegenüber.

Europa tritt tatsächlich auf als eine Union.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben gemeinsam mit anderen Verbündeten und befreundeten Nationen harte Sanktionen gegen Russland verhängt. Es sind die weitest reichenden Wirtschaftssanktionen, die Europa jemals verhängt hat, und das gegen unseren größten Energie- und Rohstofflieferanten.

Zum ersten Mal überhaupt liefert Europa tödliche Waffen in ein aktives Kriegsgebiet. Wir tun dies nicht leichtfertig. Viele begrüßen dies zu Recht als einen historischen Moment für unsere Union, die als Fundament für dauerhaften Frieden in Europa geschaffen wurde, um die Idee eines Krieges auf unserem Kontinent undenkbar zu machen.

Wenn wir diesen Weg entschlossen weitergehen, dann bin ich überzeugt, 

dass Putins aggressiver Akt Europa letztlich einigen und stärken wird.

Aber die EU darf nicht nur dann geeint sein, wenn sie auf die Aggression einer autoritären Macht reagiert.

Europa war bereits vor dem Krieg mit vielen ernsten Schwierigkeiten konfrontiert - von Wirtschafts- und Finanzkrisen über den Klimawandel bis hin zu den Folgen der Corona-Pandemie. Als Kontinent kleiner und mittlerer Staaten in einer Welt, in der Giganten um Machtsphären ringen, ist Einigkeit unsere größte Stärke.

Jean Monnet, einer der Gründerväter der EU, war sich dessen bereits 1954 bewusst, als er sagte, dass "unsere Länder für die heutige Welt zu klein geworden sind".

Das war 1954, in einer Zeit, in der Europa noch 37 % des weltweiten Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftete und 13 % der Weltbevölkerung stellte.

Aus diesem Grundgedanken ist der Europäische Binnenmarkt als starker Grundpfeiler unserer heutigen Europäischen Union vorhergegangen.

Asiens Aufstieg und das Bevölkerungswachstum im globalen Süden haben dazu geführt, dass heute Europas Anteil an der Weltwirtschaft auf 15 % gesunken ist, und nur noch knapp 7 % der Weltbevölkerung in Europa leben. Wir brauchen deshalb die Europäische Union mehr denn je. Nur gemeinsam sind wir in der Lage, souverän zu handeln und globale Entwicklungen aktiv zu gestalten.

Machen wir uns nichts vor: Die liberale Demokratie des Westens ist lange vor Putins Krieg unter Druck geraten. Auch, weil wir leichtsinnig waren: Wir haben die Energiepolitik outgesourct an Russland, die Wirtschaftspolitik an China und die Sicherheitspolitik an die USA.

China unter seinem gerade durch den Parteikongress gestärkten Machthaber Xi Jinping sieht sich gerade wegen seiner autoritären Führung als das effizientere Modell zur Schaffung von Wohlstand.  Bereits seit Mitte des letzten Jahrzehnts schickt sich das Land an, weltweit Abhängigkeiten zu schaffen, durch Bau, Betrieb und Kontrolle kritischer Infrastrukturen. Europa hat unter Führung Deutschlands zugelassen, dass der strategisch wichtige Hafen Piräus während der Eurokrise an China verkauft wurde. Seither hat Xi immer wieder offen erklärt, die USA als Weltmacht ablösen und wirtschaftliche Kontrolle nicht nur über Afrika und Asien, sondern auch über Europa erlangen zu wollen.

Meine Damen und Herren, lassen Sie uns nicht naiv sein: Wir werden hinreichende Kontrolle über unsere kritische Infrastruktur nicht behalten, wenn diese in den Händen autokratischer Machthaber liegt. Der Verkauf des größten deutschen Gasspeichers Rehden an Gazprom muss uns doch eine Lehre sein! Wir haben ihn im Jahr 2015 verkauft … wohlgemerkt, nach der russischen Annexion der Krim … und nur mit rechtlichem Zwang gelang es, ihn für diesen Winter zu füllen.

Nebenbei bemerkt: Wir, die Europäische Investitionsbank, haben seit 2014 alle Geschäfte mit Russland komplett eingestellt.

Unsere kritische Infrastruktur, Stromnetze, Gasspeicher und –verteilnetze, Kommunikationsnetze, Häfen und Eisenbahnlinien, aber auch unsere Straßen sind von strategischer Bedeutung für uns. Niemals dürfen sie in russische oder chinesische Hände geraten! 

Allzu lange haben wir uns in Europa, und ganz besonders in Deutschland, der Illusion hingegeben, dass nach dem Fall der Mauer die westliche liberale Demokratie für immer gesiegt hätte. … und, dass sie das Gesellschaftsmodell für die ganze Welt werden würde.

Der Wandel im Rest der Welt, er käme ganz von alleine, angestoßen durch weltweiten Handel aller mit allen, der gegenseitige Abhängigkeiten zum Wohle aller schaffen würde.

Es war eine schöne Utopie – nur haben wir dabei übersehen, dass vor allem wir selbst immer abhängiger wurden – vor allem und ganz konkret von Russland und seinen fossilen Energieträgern. Diese Abhängigkeit hat unsere Wirtschaft in eine schwere Krise gestürzt, und sie wird mittel- und langfristige Strukturbrüche zur Folge haben, die Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum kosten werden. Denn Energie ist das Lebenselixier der Wirtschaft - auch diese Erkenntnis ist nicht neu. Aber erst der Krieg hat sie wieder ins kollektive Bewusstsein gerückt.  

Meine Damen und Herren,

Ziehen wir inzwischen die richtigen Schlüsse aus dieser tiefen Krise?

Politische Priorität in Europa genießt das Ziel, die Ausfälle russischer Gaslieferungen schnell zu ersetzen, um schnell Energiesicherheit zu erreichen.

Der kurzfristige Fokus auf diesen und den nächsten Winter scheint jedoch den Blick zu verstellen auf das drängendste Problem der gesamten Menschheit: die globale Erderwärmung.

Denn auch wenn aktuell Krieg, Energiekrise und Rekordinflation unsere Aufmerksamkeit binden: Der Klimawandel hat nichts von seiner Bedrohlichkeit verloren. Im Gegenteil: An jedem Tag, an dem wir weitere Treibhausgase in die Atmosphäre blasen, steigt die Gefahr für die gesamte Menschheit weiter.

Der Hitze-, Dürre- und Starkregen-Sommer 2022 war – dass zeigen alle Klimamodelle – nur der Vorbote dessen, was uns droht, wenn wir Klimaschutz immer wieder hintanstellen. Die Zeit zu handeln, ist jetzt. Uns bleiben nur wenige Jahre, um das Wirtschaftssystem so umzubauen, dass das Klima nicht vollständig aus der Balance gerät.

Meine Damen und Herren,

der Übergang zu einem emissionsfreien Wirtschaftssystem ist eine der größten Schwierigkeiten, vor die uns die Klimakrise stellt.

Der Übergang zu einem emissionsfreien Wirtschaftssystem ist gleichzeitig aber auch die große Chance dafür, dass wir unsere Abhängigkeit von Öl und Gas - und damit auch von autokratischen Machthabern -  vollständig beenden können. 

Je schneller uns dies gelingt, desto schneller werden wir unabhängig von Russland, unserem größten Gaslieferanten.

Ich bin erst heute Morgen von der UN-Klimakonferenz, die derzeit in Sharm-El-Sheik stattfindet, zurückgereist. So unzureichend die derzeitigen Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels noch sind: Viele neue politische Initiativen – sei es in Europa und den USA oder in China und Japan – sind auch Grund für Hoffnung.

Im Kampf gegen den Klimawandel – wie bereits zuvor im Kampf gegen die Pandemie –  zeigen wir Europäer bereits, was möglich ist an Zusammenhalt und Stärke. Sogar, wenn es ums Geld geht.  

Aber, meine Damen und Herren,

wann, wenn nicht jetzt, ist der Zeitpunkt, an dem wirklich alle EU-Regierungen noch geschlossener, noch energischer, und noch einiger handeln müssten?

Zu Beginn der Corona-Pandemie forderte Christine Lagarde, die Präsidentin der Europäischen Zentralbank – auch im Namen des damaligen ESM Chefs, Klaus Regling, und mir – eine gemeinsame Reaktion aller EU-Staaten. Sie sagte, diese müsse „fat, fast, flexible … and European“ sein. Und die Reaktion Europas war schnell, entschlossen und flexibel: Der Europäische Wiederaufbau- und Resilienzfonds – er enthält über 720 Milliarden Euro für Investitionen.  

Aber tun wir jetzt wirklich genug, der Doppelkrise Krieg und Klimawandel nach Lagardes Motto entgegenzutreten?  Ich fürchte, nein. Seit Putin uns den Gashahn zudreht, sehe ich Europas Regierungschefs durch die Welt reisen, mit dem Ziel, wo auch immer Ersatz-Gaslieferungen aufzutreiben, oft im Bieterwettbewerb jeder gegen jeden – anstatt schon längst den Einkauf von Gas und Öl gemeinschaftlich zu organisieren. Bei der Impfstoff-Beschaffung funktioniert dies doch auch bis heute hervorragend.  

Ich meine: Die grüne Transformation ist unsere historische Chance, gleichzeitig dem Klimawandel und der Bedrohung durch Autokraten entgegenzutreten, nicht irgendwann, sondern jetzt.  

Meine Damen und Herren,

machen wir uns ehrlich:

Unsere Fähigkeit, sowohl autokratischen Aggressionen und Handlungen entgegenzutreten, als auch in grüne Technologien massiv zu investieren, ist eng mit unserer wirtschaftlichen Macht verbunden. Diese Macht festigte sich während der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts, deren Basis Innovationen waren: die Eisenbahn, elektrischer Strom, später das Auto. Von den mutigen Investitionen weitsichtiger Unternehmen profitieren wir bis heute. 

Im Zeitalter des Klimawandels und der Digitalisierung wäre es umso dringender, dass Europa sich auf seine Innovationskraft besinnt. Die Digitalisierung beschleunigt alle Lebens- und Wirtschaftsbereiche. Sie eröffnet uns ungeahnte Möglichkeiten.

Doch allzu oft betonen wir die Gefahren und weniger die Chancen neuer Innovationen.  

Um Europas Platz in Zukunft zu sichern, müssen wir die technologischen Entwicklungen aktiv mitgestalten. Und das heißt: Wir müssen jetzt investieren. Mutig und gezielt: in die Digitalisierung und in alle fortschrittlichen Bereiche, wie künstliche Intelligenz, Raumfahrt, Quantencomputer und Biotechnologie.

Diese Bereiche sind Schlüsselsektoren für künftigen wirtschaftlichen Erfolg.

Leider sind dies die Bereiche, in denen Europa ins Hintertreffen geraten ist.

Im Bereich Quantencomputer stammen aktuell 50% der führenden Finanziers aus den USA, 40% aus China und keiner aus Europa. Bei der künstlichen Intelligenz lag unser Anteil an den globalen Investitionen in den vergangenen Jahren bei nur 12%, im Bereich bei modernster Mobilfunktechnik lediglich bei 11%. Das bleibt langfristig nicht ohne Folgen.

Die gute Nachricht ist hier allerdings: In allen Sektoren, die Innovation und Klimaschutz kombinieren, ist Europa weiterhin führend in der Welt. So sind in Europa 50% mehr Patente für grüne Technologien registriert als in den USA. Diese Stärke müssen wir jetzt ausbauen und ausspielen.

Leider aber gibt es auch bei grünen und digitalen Innovationen in Europa Abhängigkeiten, die wir nicht aus dem Auge verlieren dürfen. Es gibt sie bei kritischen Rohstoffen und bei Vorprodukten. Kobalt kommt aus dem Kongo, unser Lithium beziehen wir zu großen Teilen aus China – obwohl es Vorkommen durchaus auch bei uns gibt, etwa im Oberrheingraben.

Wir sollten die Debatte über mehr Rohstoffabbau in Europa als Alternative zu Importen nicht scheuen - und uns um mehr und klügeres Recycling bemühen.  

Der Krieg in der Ukraine, wie zuvor die Covid-Pandemie, haben uns überdeutlich vor Augen geführt, dass unsere geopolitische Ignoranz und unsere Abhängigkeiten schnell problematisch werden können: bei Mikrochips zum Beispiel, und sogar bei scheinbar so banalen Dingen wie FFP2-Masken.  

Wir müssen deshalb als Europa unabhängiger von anderen Weltregionen werden. Dies bedeutet nicht, dass wir uns abkapseln sollten. Nein, wir müssen ungesunde Abhängigkeiten beenden und gleichzeitig den Handel in für uns elementaren Bereichen mit uns gleichgesinnten Partnerländern ausbauen.

Und wenn wir unser Ziel erreichen wollen, spätestens 2050 klimaneutral zu sein, werden wir auch Afrika brauchen. Seit Jahrzehnten haben wir unseren Nachbarkontinent vernachlässigt!

Vor 30 Jahren konnten wir es uns vielleicht noch leisten, Entwicklungsfinanzierung als Almosen an die Armen zu betrachten. Diese Zeiten sind vorbei, längst geht es um strategische Partnerschaften mit den Ländern des Nachbarkontinents, die mindestens ebenso stark in Europas Interesse liegen wie im Interesse Afrikas.

In energieintensiven Industrien kann Kohle und Gas wohl nur durch grünen Wasserstoff ersetzt werden. Ein großer Teil davon müsste künftig im sonnen- und windreichen Afrika produziert und in die EU exportiert werden. Aus einem Kontinent, der dann hoffentlich auch selbst auf erneuerbare Energien für seine eigene Elektrifizierung setzt – was bisher leider nicht der Fall ist: Hier müssen wir Europäer Überzeugungsarbeit leisten. Dies wird uns nicht gelingen, wenn unsere Regierungschefs weiterhin vor Afrikas Küsten neue Gasfelder erschließen wollen.  Glaubwürdig werden wir hier nur werden, wenn wir jetzt schnell den Energiesektor in Europa auf Wind und Sonne umstellen und das fossile Zeitalter beenden.    

Klar ist: Wir werden keine einzige unserer großen Aufgaben im nationalen Alleingang bewältigen können. Ich bin zutiefst überzeugt, dass wir im globalen Wettbewerb, in Zeiten von Krieg und Klimawandel, nur als Europa gemeinsam bestehen können. Europa ist keine Option, Europa ist Notwendigkeit. Ohne ein funktionierendes Europa werden wir hier auch als Nationalstaaten scheitern.   

Meine Damen und Herren,

klar ist auch: Der Umbau unserer Wirtschaft kostet viel Geld. Die Stärkung unserer Wettbewerbsfähigkeit durch neue Technologien, eine bessere Infrastruktur, die Transformation zu einer nachhaltigen und digitalen Wirtschaft und Gesellschaft: All dies erfordert enorme Investitionsmittel.

Allein um seine Klimaziele zu erreichen, muss Europa nach Berechnungen der EU-Kommission bis 2030 jährlich 350 Milliarden Euro investieren - zusätzlich zu dem, was bereits geplant war.

Im Bereich der künstlichen Intelligenz brauchen wir das Vierfache des derzeitigen Investitionsniveaus, um weltweit eine führende Position zu erreichen.

Noch jeder Strukturwandel, jede Transformation hat gezeigt: Tiefgreifender Wandel kann nur gelingen, wenn die Menschen mit Zuversicht in die Zukunft blicken können. Die grüne Transformation unserer Wirtschaft ist eine gewaltige Aufgabe, in ihrer Dimension vergleichbar mit dem Umbau der einst sozialistischen Volkswirtschaften des Ostblocks in soziale Marktwirtschaften nach dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs vor 33 Jahren.

Wir Deutsche aus dem Westen müssen uns vorhalten lassen, damals nicht genug darauf geachtet zu haben, alle Menschen mitzunehmen auf dem steinigen Weg des Übergangs. Die Lehre aus den 1990er Jahren lautet, dass wir niemanden zurücklassen dürfen. Nur wenn der Wandel Chancen für alle bietet, wird er erfolgreich sein.  

Meine Damen und Herren,

Sie fragen sich nun vermutlich: Woher soll das viele Geld denn kommen?

Die Frage ist berechtigt, und die Antwort nicht trivial, denn die Ressourcen der europäischen Staaten sind nicht unendlich.

Wir können nicht mehr nur auf niedrige Zinsen und höhere Schulden setzen. Es wäre auch schädlich, enorm höhere Staatsausgaben durch deutlich höhere Steuern zu finanzieren.

Das Ausmaß der notwendigen Investitionen erfordert die Einbeziehung des Privatsektors. Neue Formen von "öffentlich-privaten Partnerschaften", bei denen der Staat begrenzte Finanzierungsrisiken übernimmt, können bei der Mobilisierung von Privatkapital sehr hilfreich sein.

Eine Institution haben die EU-Staaten bereits. Sie kann diesen Prozess organisieren, Investitionen koordinieren und bündeln, damit der Privatsektor mehr investiert, und das Geld dorthin fließt, wo es die größte Wirkung erzielt. Diese Institution ist seit 1958 die Europäische Investitionsbank, die ich seit 11 Jahren mit großer Begeisterung leiten darf.

Die Europäische Investitionsbank ist jedoch nicht nur eine Förderbank. Sie ist auch ein Beispiel dafür, wie Europa im Konkreten einen positiven Beitrag zu den großen Herausforderungen unserer Zeit leistet. Wir machen Europa greifbar durch konkrete Projekte in unsere Zukunft.

Wir haben innovative Technologien gefördert, zum Beispiel für schwimmende Windparks, die das Potenzial haben, die weltweite Stromerzeugung um das Elffache des heutigen Verbrauchs zu erhöhen. Private Investoren allein hätten sie niemals gebaut. Unsere Unterstützung für die Windenergie hat dazu beigetragen, eine Industrie zu schaffen, die so groß ist, dass der Bau von Windturbinen - insbesondere im Meer - kosteneffizienter geworden ist als selbst die günstigsten Projekte für fossile Brennstoffe.

Wir haben bereits vor Jahren die Krebsforschung von BioNtech und später deren COVID-Impfstoffentwicklung und -produktion mitfinanziert und damit einen Beitrag zur Bekämpfung der COVID-Pandemie geleistet.

Wir finanzieren die Forschung an Quantencomputern in Finnland und Windrädern in Dänemark, die Produktion von klimafreundlichen Stahl in Schweden und grünem Dünger in Spanien, die Herstellung von Nanosatelliten in Bulgarien und den Stromnetzausbau von Tennet in Deutschland. Wir fördern den Aufbau einer grünen Wasserstoffwirtschaft und einer europäischen Batterieproduktion um so unabhängiger vom Ausland zu werden.

Über unser Tochter, den Europäischen Investitionsfond, haben wir Start-ups, wie Spotify, UiPath, N26 und Klarna in ihren Anfängen mit Risikokapital unterstützt.

Diese Beispiele zeigen, wie Europa und seine Institutionen funktionieren, wie Europa einen positiven Beitrag zur Bewältigung der großen Zukunftsaufgaben leistet.

Sie sehen, meine Damen und Herren, wenn es um Investitionen in unsere Zukunft geht, kann Europa liefern. Nach der Finanz- und Eurokrise etwa haben wir mit dem Juncker-Plan mehr als 500 Milliarden Euro für Investitionen realisiert, und in diesem Jahrzehnt wollen wir, die EU-Klimabank, eine Billion Euro für die grüne Transformation mobilisieren.

Gerne möchte ich Sie dazu einladen, dem Beispiel der Europäischen Investitionsbank folgend, Europa konkret und zukunftsgerichtet zu denken.

Ein Europa, das sich den Herausforderungen der Zukunft annimmt,

ein Europa, das sich seiner Rolle in der Welt bewusst ist,

ein Europa das notwendige Risiken nicht scheut,

ein Europa das greifbar ist und sich in konkretem zeigt,

und, vor allem, ein Europa, das dann liefert, wenn es darauf ankommt.

 

Das Brandenburger Tor in Berlin steht an diesem Datum seit 33 Jahren für die Freiheit - und den Willen der Menschen, nach ihr zu streben.

Ich danke Ihnen und freue mich auf die Diskussion.