Wie ein Unternehmen die Arzneimittelversorgung chronisch Kranker digitalisieren will

Das Faxgerät hat ausgedient, möchte man meinen. Aber nicht im Gesundheitswesen, sagt Muhammad Ali Khan, Mitgründer des Start-ups Pillio.

Die mangelnde Digitalisierung der Medizin in Europa „ist eine große Belastung für Pflegekräfte und Ärzte“, so Khan. „Sie halten das System am Laufen, aber lange kann das so nicht mehr gehen.“

In Deutschland, wo Pillio herkommt, erhalten Pflegekräfte wöchentlich Tausende Medikationspläne von den Ärztinnen und Ärzten ihrer chronisch kranken Patienten. Die faxen sie an Apotheken, die die Daten händisch in ihre eigenen Systeme eingeben. „Für jede Änderung geht ein weiteres Fax raus, damit die Apotheke die Eingaben ändert“, erläutert Khan. So verbringt eine Pflegekraft nicht selten drei bis vier Stunden am Tag nur mit Papierkram.

Pillio will das ändern und die manuellen Abläufe digitalisieren, die das System überlasten,

Pflegekräfte erschöpfen und ihnen weniger Zeit lassen, sich um ihre Patienten zu kümmern. „Wir wollen die Abläufe radikal vereinfachen und die Technik modernisieren, die noch aus den 1980ern stammt.“

Eine App für Rezepte

Die Idee für Pillio kam Khan, als er 2020 in Frankreich ins Krankenhaus musste und das Übel im Gesundheitssystem am eigenen Leib erfuhr: Acht Stunden wartete er in der Notaufnahme, bis endlich jemand Zeit für ihn fand.

Konkreter wurde es, als er für ein deutsches Unternehmen arbeitete, das im Verkehrssektor Faxgeräte durch digitale Lösungen für Logistikfirmen und Speditionen ersetzte. „Das schien mir ein simples, aber überzeugendes Nutzenversprechen. Es veränderte das gesamte System mit seinen Abläufen“, so Khan.

Zusammen mit George Kyriakopoulos gründete er im Januar 2022 Pillio. Der ursprüngliche Plan war eine App, die chronisch Kranken das Leben erleichtert – eine App für elektronische Rezepte an Apotheken, die dann die Medikamente liefern.

Seither hat Pillio sein Konzept weiterentwickelt. Die Zielgruppe sind nach wie vor chronisch Kranke, aber es soll vor allem deren Pflegekräfte entlasten. Denn da sieht Khan den Engpass.

„Als wir an der App tüftelten, sprachen wir mit Pflegeheimen und Apotheken und hörten immer wieder das Gleiche: Die papiergebundenen Abläufe erdrücken uns“, sagt er. „Es wurde also klar: Für eine kundenzentrierte Plattform müssen wir die Dienstleister einbinden. Eine App nur für die Patienten, das würde nicht reichen.

Entwicklung in Zusammenarbeit mit den Kunden

Bis zum Winter schälte sich heraus: Mit der Automatisierung der Abläufe zwischen Pflegekräften und Apotheken könnte das Start-up mehr erreichen. „Als bekannt wurde, dass wir das Problem lösen wollten, stießen wir sofort auf offene Ohren, aber auch auf leichte Zweifel, ob das überhaupt möglich war“, erinnert sich Khan. „Man sagte uns: ‚Selbst wenn es nur eine kleine Chance gibt – wir fänden das wirklich gut.‘“

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©Elnur/ Shutterstock

Pillio entwickelt seine Lösung direkt zusammen mit Pilotkunden – Pflegekräften in Heimen und einem deutschen Anbieter für ambulante Pflege, der 4 000 Betten betreut. 3,5 Millionen Menschen in Deutschland werden laut Khan dauerhaft zu Hause gepflegt. Sie bieten sich natürlich als erste Zielgruppe für die App an. Später will Pillio auch nach Österreich, in die Schweiz und nach Frankreich expandieren, wo die häusliche Pflege ähnlich läuft.

Das Unternehmen stand 2022 im Finale des Wettbewerbs für Soziale Innovation der Europäischen Investitionsbank. Dort werden Start-ups ausgezeichnet, die eine positive soziale, ethische oder ökologische Wirkung erzielen.

Neuer Schub für die elektronische Patientenakte

Nachdem der Prototyp gut ankam, soll die App in diesem Frühjahr auf den Markt kommen.

Der Businessplan sieht vor, dass die Gesundheitsdienstleister für die Nutzung zahlen. Später soll die App auch mit Versicherungen verknüpft werden. Das Ziel ist immer noch, den Patientinnen und Patienten das Leben zu erleichtern, aber das läuft nun hinter den Kulissen.

„Wir wollen es einfach und reibungslos machen“, so Khan. „Die Betroffenen sollen damit gar nichts zu tun haben, vor allem chronisch Kranke. Sie haben schon genug Stress: Wann ins Krankenhaus? Wann zur Untersuchung? Medikamente nicht vergessen!“

In der Zukunft würde Khan gern die Nutzung elektronischer Patientenakten voranbringen, damit die Dienstleister genau über den Zustand ihrer Patienten Bescheid wissen.

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Ohne Zugang zu digitalen Daten unterlaufen den Pflegekräften eher Fehler mit den Medikamenten, gibt er zu Bedenken. „Es kann Komplikationen geben, wenn ein ganzer Cocktail von Medikamenten verabreicht wird“, so Khan. „Das lässt sich vermeiden, wenn die komplette Krankengeschichte vorliegt.“

Europa hat robuste Gesetze für den Schutz von Patientendaten, und Pillio hat von Anfang an strenge Vorkehrungen für die Datensicherheit getroffen.

Das Timing ist ideal.

Im März verkündete die deutsche Bundesregierung ihre Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitswesen. Im Mittelpunkt stehen eine digital gestützte Versorgung und die Verknüpfung aller beteiligten Akteure. „Für uns könnte es nicht besser laufen“, freut sich Khan. „Wir sind allen anderen Wettbewerbern ein Stück voraus.“

Und die Pflegekräfte in Deutschland haben hoffentlich bald mehr Zeit für das, was ihre eigentliche Aufgabe ist.