Im Vereinigten Königreich wurden in den 1980er Jahren stark industriell geprägte Innenstädte in pulsierende Stadtzentren umgestaltet – eine Strategie, die europaweit Schule gemacht hat

Im Palazzo dei Conservatori auf dem von Michelangelo prachtvoll umgestalteten Kapitolshügel unterzeichneten Vertreter von sechs europäischen Nationen am 25. März 1957 die Römischen Verträge. Das Vertragswerk, das auch die Artikel zur Gründung der Europäischen Investitionsbank enthält, war – wie ein Historiker es formulierte – „eine Erklärung der guten Absichten für die Zukunft”. Über einen Zeitraum von zwei Wochen veröffentlichen wir eine kleine Auslese von Geschichten zum sechzigsten Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge – eine Geschichte für jedes Jahrzehnt der Entwicklungsgeschichte der Bank. Diese Geschichten dokumentieren, wie die EIB dazu beigetragen hat, gute Absichten Wirklichkeit werden zu lassen.

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In den 1970er Jahren war es nach einem Rugbyspiel in der walisischen Hauptstadt Cardiff üblich, dass die Fans aus dem Cardiff-Arms-Park-Stadium in Richtung Hafen strömten, um in den Pubs des Rotlichtviertels „Tiger Bay“ noch ein Bier zu trinken. Den Namen hatte das Viertel in einer Zeit erhalten, als der Hafen ein Hauptumschlagplatz für Kohle war und Matrosen auf Landgang immer wieder mit wilden und manchmal mörderischen Eskapaden von sich reden machten. Nach der Schließung der umliegenden Zechen verlor der Hafen jedoch in den 1980er Jahren an Bedeutung. Nur der schlechte Ruf blieb. Der pensionierte Architekt David Poole erinnert sich an ein Sanierungsprojekt in der Nähe des Hafens, an dem er damals arbeitete. Er und ein Kollege waren auf ein Gerüst geklettert, um ein Gebäude zu untersuchen. Als sie hinunterschauten, sahen sie einen kleinen Jungen, der auf seinem Fahrrad mit einem Ziegelstein in der Hand die Straße entlang radelte. An Pooles Auto angelangt, zertrümmerte er mit dem Stein die Scheibe und beugte sich hinein, um die Tasche zu stehlen. In dem Moment kam plötzlich ein anderer Junge hinzu, verprügelte den Dieb und machte sich seinerseits mit der Tasche davon. „Es war ein raues Pflaster“, erinnert sich Poole. „Alles war wirklich ziemlich heruntergekommen.“

In den späten 1980er Jahren wendete sich jedoch das Blatt: das Hafenviertel von Cardiff rückte in den Mittelpunkt eines umfangreichen Stadterneuerungsprojekts. Ein Damm, der quer durch die Bucht gebaut wurde, verwandelte den Zusammenfluss von Taff und Ely in eine Lagune, an deren Ufer öffentliche Gebäude, Kulturzentren und Restaurants entstanden. Die EIB unterstützte die Maßnahmen mit einem Darlehen für die Errichtung eines Kongresszentrums, eines Hotels und eines Bürogebäudes. Heute ist Cardiff Bay ein wichtiger Anziehungspunkt für Touristen und ein pulsierender Mittelpunkt des Stadtlebens, was auch die Wirtschaft in den übrigen Vierteln erheblich angekurbelt hat. Jeden Freitag trifft sich Poole mit Padrig Davies und David Rees, zwei früheren Arbeitskollegen vom Sanierungsprojekt, in einem französischen Restaurant namens Côte in der Nähe der Bucht. Dann staunen sie über den Wandel, der sich innerhalb weniger Jahrzehnte vollzogen hat. „Dieses Projekt hat für Cardiff verdammt viel bewirkt“, meint Rees. „Die ganze Stadt hat sich verändert, und alles fing hier am Hafen an.“

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Städte im Umbruch

Nach dem Niedergang der exportorientierten Schwerindustrie überall im Vereinigten Königreich in den 1970er Jahren waren die 1980er Jahre eine Zeit des Umbruchs, von der besonders die Häfen betroffen waren. Die EIB finanzierte Projekte im Londoner Hafenviertel Canary Wharf sowie in regionalen Zentren wie Cardiff. Früher finanzierte die Bank Investitionen in die Stadtentwicklung hauptsächlich im Rahmen anderer Darlehen für Vorhaben, die zufällig in Städten durchgeführt wurden. Allmählich legte die EIB jedoch im Einklang mit den beim Amsterdamer Gipfel 1999 beschlossenen Änderungen der EU-Politik zunehmend mehr Gewicht auf dieses Thema. Nach der Annahme des Pakts von Amsterdam im Jahr 2016 übernimmt die EIB nunmehr eine maßgebliche Rolle bei der Umsetzung der EU-Städteagenda. Wie in dem Pakt explizit festgelegt, unterstützt sie die Stadtentwicklung mit Finanzierungen und Beratungsleistungen.

Es gibt zwingende Gründe dafür, warum sich die EIB heute so sehr auf Städte und Gemeinden konzentriert. Im Jahr 2008 lebte mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in städtischen Gebieten. Bis 2030 dürfte sich dieser Anteil auf 60 Prozent erhöhen. Dies entspräche dann der gesamten Weltbevölkerung im Jahr 1987 – dem Jahr, als in Cardiff mit der Stadterneuerung begonnen wurde. Mit dem Wachstum der Städte erhöhen sich auch ihre Umweltauswirkungen. Als Hauptzentren für die Transformation von Rohstoffen und Waren sind Städte die wichtigsten wirtschaftlichen Wachstumsmotoren. Zugleich sind sie die größten Umweltverschmutzer und Abfallverursacher. Städte kurbeln den wirtschaftlichen Fortschritt an, allerdings nur dann, wenn das Tempo und die Art und Weise des städtischen Wachstums angemessen gesteuert werden. So ist angesichts der fortschreitenden Verstädterung davon auszugehen, dass die Städte einen immer höheren Anteil am globalen Energieverbrauch und an den CO2-Emissionen zu verantworten haben werden (schon heute liegt dieser Anteil bei über 70 Prozent). Dies wird zwangsläufig enorme Auswirkungen auf die globale Erwärmung haben. Daher ist in Bereichen wie Energiemanagement, Eindämmung des Klimawandels und Anpassung an seine Auswirkungen ein verstärktes Augenmerk auf Städte zu legen.

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Von Barcelona nach Osteuropa

Brian Field war viele Jahre lang als leitender Berater im Bereich Stadtplanung und Stadtentwicklung bei der EIB tätig, bevor er als Professor an das University College in London berufen wurde. Im Rahmen einer früheren akademischen Tätigkeit in den 1970er Jahren fuhr er oft mit seinen Studenten nach Cardiff Bay, um an diesem Paradebeispiel das Problem städtischer Verwahrlosung zu untersuchen. Er spannt den Bogen von den ersten Stadtentwicklungsfinanzierungen, die die EIB in den 1980er Jahren in Cardiff und anderswo bereitstellte, über die sozialen Wohnungsbauprogramme in Glasgow in den späten 1990er Jahren bis zur Finanzierung der Sportlerunterkünfte für die Olympischen Spiele in London. Diese war von der EIB unter der Prämisse gewährt worden, dass die Unterkünfte im Londoner Stadtteil Stratford nach den Spielen in Sozialwohnungen umgewandelt würden. „Cardiff hat durch die Sanierung einen spektakulären Wandel vollzogen“, meint Field. „Eine ähnliche Wirkung hat das Engagement der Bank auch in zahlreichen weiteren Städten gehabt; schauen Sie sich nur Barcelona an oder die von der EIB finanzierten Stadterneuerungsprojekte in Mittel- und Osteuropa.“

Nach dem Vertrag über die Europäische Union ist die EU formell für die Regionalpolitik zuständig, während die Stadtentwicklung in den Hoheitsbereich der Mitgliedstaaten fällt und auf nationaler oder lokaler Ebene (Regionen, Städte, Gemeinden) gestaltet wird. Die Förderung von Beschäftigung, Wachstum und Lebensqualität durch die EU erfordert jedoch auch auf lokaler Ebene gemeinsame Anstrengungen. Daher haben sich die regionalen und insbesondere die städtischen Rahmenbedingungen zu einem wichtigen Thema der öffentlichen Politik entwickelt. Städtische Themen werden auf EU-Ebene im Rahmen der Kohäsionspolitik behandelt. Dabei hat das Bewusstsein für ihre Bedeutung kontinuierlich zugenommen.

Einen Boom erlebten die Stadtentwicklungsfinanzierungen der Bank in der Zeit nach dem EU-Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder. Gerry Muscat, Leiter der Abteilung Stadtentwicklung, arbeitete damals für eine andere internationale Organisation in Osteuropa und konnte vor Ort beobachten, wie die Abkehr von der Planwirtschaft Gemeinden und Regionen neue Chancen eröffnete, ihre Entwicklung in die eigene Hand zu nehmen. „Plötzlich verfügten sie über eigene Einnahmequellen und konnten als Städte Investitionen tätigen“, so Muscat. „Dies befähigte sie, eigene Pläne für die Stadtentwicklung zu entwerfen.“

In der EU-Städteagenda sind einige Schlüsselprioritäten festgelegt, die überall in Europa auf Resonanz stoßen:

  • Intelligente Städte: Europäische Städte sollen weniger CO2-Emissionen und weniger Abfall produzieren und über intelligente Verkehrsnetze und Infrastrukturen verfügen. Dies erfordert ein effizientes Ressourcenmanagement und intelligente Infrastrukturlösungen (vor allem in Bezug auf Energie und Verkehr). Beispiele hierfür sind die Förderung von nachhaltiger Mobilität und Erreichbarkeit in den Städten, Energieeffizienz, Nutzung erneuerbarer Energien und die Weiterentwicklung der digitalen Agenda.
  • Grüne Städte: Europäische Städte sollen umweltfreundlicher, kompakter und widerstandsfähiger gegen die Folgen des Klimawandels werden. Bei der Stadtentwicklung muss daher auf grüne Infrastrukturen und naturbasierte Lösungen geachtet werden. Beispiele hierfür sind der Aufbau einer Lebensmittelproduktion der kurzen Absatzwege, die Minimierung von Zersiedlung, Flächenverbrauch und Bodenversiegelung und ein besserer Schutz der natürlichen Lebensräume.
  • Inklusive Städte: Europäische Städte sollen Raum für ein lebendiges, fürsorgliches und generationenübergreifendes Miteinander bieten. Hierzu müssen die Lebensqualität durch die Schaffung bezahlbarer Wohnungen verbessert, benachteiligteStadtviertel wiederbelebt, der Zugang zu zentralen städtischen Dienstleistungen optimiert, die lokale Wirtschaft gefördert und Arbeitsplätze geschaffen werden.

Muscat, Leiter der Abteilung Stadtentwicklung, bringt es mit Blick auf die künftigen Aufgaben der Bank im siebten Jahrzehnt ihres Bestehens noch deutlicher auf den Punkt: „Die Herausforderungen, vor denen Europa steht, sind in vielerlei Hinsicht städtische Herausforderungen. „Klimawandel, Flüchtlinge, Radikalisierung und terroristische Bedrohungen, soziale Ungleichheit. Stadtentwicklung kann maßgeblich zur Lösung dieser Probleme beitragen, da sie eine soziale Infrastruktur und Arbeitsplätze schafft.“