Eine Neutronenquelle in Schweden bringt die europäische Materialforschung auf ein neues Level und sorgt für grüne Innovationen

Im schwedischen Lund entsteht gerade eine der größten Forschungseinrichtungen in Europa: die Europäische Spallationsquelle (ESS). 13 europäische Länder sind an ihr beteiligt, und wenn sie fertig ist, wird sie die leistungsstärkste Neutronenquelle der Welt sein. Forscherinnen und Forscher aus aller Welt sollen hier für wissenschaftliche Durchbrüche sorgen und durch ihre Materialforschung mit den kleinen, subatomaren Teilchen Antworten auf die großen Fragen der Menschheit finden.

„Die ESS berührt viele Bereiche, die wichtig für uns alle sind“, sagt Pia Kinhult, die bei der ESS die Beziehungen zu den Standortländern koordiniert. „Wir alle wollen Innovationen in Europa vorantreiben und Lösungen für den Klimawandel und andere gesellschaftliche Probleme finden.“

Die Investitionen in die ESS sind erheblich, allein schon wegen ihrer Dimensionen. Die 700 Meter lange Anlage (etwa 13 Fußballfelder) beherbergt künftig 15 hochmoderne Forschungsinstrumente und entsprechende Labors sowie einen 600 Meter langen Protonenbeschleuniger. Die EIB unterstützt die ESS mit einem Kredit, damit Europa seine Vorreiterposition in der internationalen Materialforschung behaupten kann.

>@ESS/Roger Eriksson
© ESS/Roger Eriksson

Die Experimente in der ESS ermöglichen neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Hier entstehen die Materialien der Zukunft, von der Energie bis zu den Life Sciences.

Nette Neutronen

Neutronen mögen winzig sein, aber sie sind elementar, um die Welt um uns herum zu verstehen. Sie sitzen im Atomkern und eignen sich deutlich besser als andere Technologien für die Erforschung von Materie und Materialien.

„Neutronen sind schnell, intelligent und haben die nette Eigenschaft, dass sie den untersuchten Gegenstand nicht zerstören – anders als etwa Röntgenstrahlen“, erklärt Kinhult. „Damit ist es möglich, auch empfindliche Proben wie Proteine und lebende Zellen zu untersuchen, oder auch Wasserstoff, der bei fast allen biologischen Abläufen eine wesentliche Rolle spielt.“

Bei der Spallation werden Neutronenstrahlen erzeugt, indem Protonen fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und in eine Wolframröhre geschossen werden. Danach wird beobachtet, wie die herausgeschlagenen Neutronen Material durchdringen, um zu erforschen, wie sich Atome und Moleküle darin verhalten und interagieren. So können Materialien verbessert oder ganz neue geschaffen werden.

„Man kann die ESS mit einem riesigen Mikroskop vergleichen“, sagt Pressereferentin Julia Öberg, eine der 500 Beschäftigten der Einrichtung. „Die Experimente bei uns ermöglichen neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Wir sind die Brutstätte für die Materialien der Zukunft, vom Energiebereich bis hin zu den Biowissenschaften.“

Europa unterstützt schwedische Innovationen

James Chadwick wies 1932 die Existenz von Neutronen nach, damals noch in einem relativ kleinen Labor in England. Heute braucht man für Experimente mit Neutronen größere Anlagen und komplexere Instrumente.

All das bietet die ESS. An dem Großvorhaben wird seit Jahren gearbeitet, und seit Dezember 2021 stehen nun die Gebäude. „Der Bau solcher Anlagen war in der Vergangenheit nicht einfach“, sagt Kinhult. „Wir haben schon früh gemerkt, dass wir Liquidität brauchen, sowohl für die Bauphase als auch für den laufenden Betrieb in den kommenden Jahren.“

Die EIB unterstützt die ESS mit 50 Millionen Euro. Die Mittel stammen aus der Initiative InnovFin – EU-Mittel für Innovationen, die die EIB-Gruppe und die Europäische Kommission im Rahmen des EU-Programms „Horizont 2020“ ins Leben gerufen haben. Mit diesem dritten Kredit seit 2016 hat die EIB bisher insgesamt 200 Millionen Euro für die ESS vergeben.

„InnovFin bietet Finanzierungen für Forschungs- und Innovationsprojekte, wie etwa Forschungsinfrastruktur“, erklärt Aristomenis Pofantis, Lead Engineer in der Abteilung für nachhaltige und digitale Wirtschaft der EIB. „Mit ihrem Kredit will die EIB dafür sorgen, dass dieses ambitionierte Projekt trotz der anhaltenden Probleme wegen Corona ohne teure Verzögerungen fertiggestellt werden kann.“

Dank der EIB gehen der Bau und die Inbetriebnahme der ESS ohne Unterbrechungen weiter. „Die EIB hilft uns dabei, das Projekt voranzubringen und die Projektkosten mit den Beiträgen der an der ESS beteiligten Länder zu überbrücken“, sagt Öberg. „Es ist schön, die EIB bei diesem enormen Infrastrukturprojekt hinter sich zu wissen.“

>@ESS/ Ulrika Hammarlund
© ESS/ Ulrika Hammarlund

Jedes Jahr begrüßt die ESS bis zu 3 000 Forschende von Universitäten, Instituten und Unternehmen weltweit, die rund 800 Experimente durchführen.

Grünere Forschung und Innovation in Europa

Europa war immer schon tonangebend in der Neutronenforschung, aber die ESS ist sehr viel mehr als nur eine Neutronenquelle.

Sie wird die Forschung in Europa und dem Rest der Welt verändern.  Öberg: „Das ist ein riesiger technologischer Schritt, der die Materialforschung auf ein völlig neues Level heben wird. Die ESS kann bis zu 100 Mal mehr Neutronen erzeugen als vergleichbare Anlagen und wird die Vorreiterrolle der europäischen Forschung auf dem Gebiet der Neutronenstreuung weiter festigen.“

Jedes Jahr können in der ESS bis zu 3 000 Forscherinnen und Forscher aus Universitäten, Instituten und Unternehmen auf der ganzen Welt ihre Experimente durchführen – etwa 800 pro Jahr.

„Kooperation ist ein Kernaspekt der ESS“, erklärt Kinhult. „Die Wissenschaft braucht hochwertigere Daten, um Lösungen für die Probleme unserer Zeit zu finden. Und alles, was sie für die dafür erforderlichen Experimente braucht, findet sie bei uns.“

Die Forschungseinrichtung hat außerdem eine grüne Dimension. Sie bietet ideale Bedingungen für die Forschung zu Klima und Nachhaltigkeit. Zudem beheizt ihre überschüssige Energie Tausende Wohnungen und andere Gebäude im Umland.

„Alles basiert heute auf Forschungsdaten, auch der Kampf gegen den Klimawandel“, sagt Kinhult. „Mit den Experimenten hier in der ESS tragen wir dazu bei, dass neue und nachhaltigere Materialien entstehen und umweltfreundlichere Energie- und Verkehrslösungen entwickelt werden.“