Kostenlose Karten-App führt mobilitätseingeschränkte Menschen zu barrierefreien Läden, Restaurants und Straßen

Wer im Rollstuhl unterwegs ist, kennt das: Ein paar Stufen vor dem Restaurant, und der Abend ist gelaufen.

„Infos sind für mich das A und O“, sagt Judyta Smykowski, Rollstuhlfahrerin in Berlin. „Ist ein Ort barrierefrei? Kann ich da mit Freunden hin? Oder werde ich die Attraktion des Abends?“

Da hilft die Wheelmap-App – eine per Crowdsourcing entwickelte Karte, auf der Informationen über Barrierefreiheit geteilt werden können, etwa zu Restaurants, Läden, U-Bahn-Haltestellen oder Straßen. Mit einem Ampelsystem werden die Orte markiert: grün bedeutet barrierefrei, gelb teilweise zugänglich und rot nicht rollstuhlgerecht. Weitere Symbole geben beispielsweise Auskunft über Toiletten.

„Das spart echt Zeit“, sagt Judyta, Community Managerin für Wheelmap. „Eigentlich bräuchten wir strengere Gesetze in Sachen Barrierefreiheit. Die gibt es aber nicht, deswegen müssen wir uns selbst helfen.“

Die kostenlose App wurde vor rund zehn Jahren von Holger Dieterich und seinem Freund Raul Krauthausen, selbst Rollstuhlfahrer, entwickelt. Beide studierten an der Berliner Universität der Künste. Raul belegte als Hauptfach Kommunikationswissenschaft, Holger e-Business.

„Wir haben beide gerne an Ideen herumgetüftelt und waren immer im selben Café. Irgendwann schlug ich vor, mal zu mir ins Viertel zu gehen. Er meinte: ‚Keine Ahnung, in welche Cafés ich bei Dir mit dem Rollstuhl reinkomme.‘“

So entstand Wheelmap.

Gerechte Teilhabe an der Gesellschaft

„Bislang wurden mehr als eine Million Orte markiert“, erzählt Holger. „Wheelmap ist weltweit in 30 Sprachen verfügbar.“ Die Userinnen und User können Fotos und Kommentare hochladen, um die App weiter zu verbessern.

Wheelmap teilt Daten mit ähnlichen Karten-Apps in anderen Ländern, etwa mit  Jaccede in Frankreich, sodass noch mehr Menschen davon profitieren können.

„Es geht nicht nur um die Stufen vor einem Restaurant“, sagt Holger. „Es geht um eine gerechte Teilhabe an der Gesellschaft, um ein Menschenrecht. Man bekommt mehr Freiheit, aber auch eine Stimme und die Macht, eine bessere Teilhabe zu verlangen.“

Menschen mit Behinderung bilden eine sehr große Zielgruppe. Laut Weltgesundheitsorganisation gab es im Jahr 2021 mehr als eine Milliarde Menschen auf der Welt mit irgendeiner Form der Behinderung.

Wheelmap erreichte 2021 das Finale des Wettbewerbs für Soziale Innovation der EIB. Mit dem Wettbewerb würdigt das EIB-Institut Unternehmen, die Lösungen für ökologische und gesellschaftliche Herausforderungen finden.

Wheelmap ist eines von vielen Projekten der gemeinnützigen Organisation Sozialheld*innen, die sich vor allem darauf konzentriert, Menschen mit Behinderung zu helfen und den Blick der Öffentlichkeit zu verändern.

>@Sozialheld*innen
© Sozialheld*innen

Wheelmap ist ein Projekt von Sozialheld*innen

Um Aufklärungsarbeit zu leisten und Geld einzunehmen, organisiert Wheelmap seit Neuestem Events in Nachbarschaften und Unternehmen. Dabei erkunden Menschen gemeinsam ihre Viertel und füttern die Wheelmap-App mit neuen Infos. Im Lockdown fanden diese Veranstaltungen online statt. Für die Organisation verlangt Wheelmap eine Gebühr. Die Events fanden überwältigenden Anklang, besonders bei Unternehmen, die damit ihre soziale Verantwortung beweisen können.

Mehr als ein Mobilitätswandel

2019 fügten 25 Beschäftigte von Booking.com in Amsterdam Wheelmap fast 600 neue Bewertungen hinzu. An nur einem Nachmittag waren so von jetzt auf gleich 68 Prozent statt 56 Prozent der Locations in Amsterdam bewertet.

„Viele sagen uns, dass sie nun mit ganz anderen Augen durch die Einkaufsstraße spazieren. Sie können nicht mehr weggucken und ändern dadurch auch ihr Verhalten. Genau das wollen wir erreichen“, meint Holger.

„Wheelmap kommt allen zugute“, sagt Judyta. Sie weist darauf hin, dass die meisten Menschen nicht mit eingeschränkter Mobilität geboren werden. Sie haben Unfälle, werden krank oder älter. Oder schieben einfach einen Kinderwagen vor sich her. Und plötzlich spielt Barrierefreiheit für sie im Alltag eine ganz große Rolle.

„Sich für Menschen mit Behinderung einzusetzen, hat nichts mit Wohltätigkeit zu tun“, meint Judyta. „In Deutschland haben etwa zehn Prozent der Menschen eine Behinderung. Wir sind zahlende Kundschaft und Teil der Gesellschaft. Dass das noch nicht überall angekommen ist, zeigen uns die fehlenden Gesetze. Aber alle sollten sich dessen bewusst sein.“