Was ist ein digitaler Marktplatz? Und wie funktioniert er? Lesen Sie, wie solche Plattformen einen besseren und effizienteren Service ermöglichen

Digitale Marktplätze wie Amazon oder Booking.com expandieren in den Energiesektor und die Speditionsbranche, um sich neue Märkte zu erschließen. Europa will in diesem Geschäft künftig stärker mitmischen und dazu eigene digitale Marktplätze aufbauen.

Aber was ist eigentlich ein digitaler Marktplatz und wie funktioniert er? Wir haben Darragh Mac Neill und Salvatore Scagliarini gefragt, zwei erfahrene Branchenexperten bei der Europäischen Investitionsbank, die die Entwicklung des Sektors mit vorantreiben.

Was ist ein digitaler Marktplatz?

Darragh: Ein digitaler Marktplatz ist eine Plattform, über die Geschäfte abgeschlossen werden, und zwar für Produkte und Dienstleistungen. Die Plattform bringt die Anbieter von Produkten oder Dienstleistungen mit möglichen Käufern zusammen.

Salvatore: Im Energiesektor dreht sich gerade alles um die drei Ds: Dekarbonisierung, Dezentralisierung und Digitalisierung. Eine digitale Energieplattform ist im Grunde ein System aus Software und Hardware, das alle drei Ds in sich vereint, indem es Stromangebot und Stromnachfrage in Ausgleich bringt. Dazu aggregiert die Plattform sogenannte verteilte Stromquellen und bietet den Strom im Netz an.

Das ist ein völlig neues Geschäftsmodell für die Branche – so neu, dass es noch nicht einmal reguliert ist. Verteilte/dezentrale Energiequellen wie Batterien von Elektrofahrzeugen oder Solaranlagen auf dem Dach können selbst keinen Strom ins Netz einspeisen, weil sie zu klein dafür sind. Außerdem erzeugen erneuerbare Energiequellen wie Wind und Sonne unregelmäßig Strom, nämlich nur dann, wenn die Sonne scheint und der Wind weht. Zweck einer digitalen Plattform ist es, all diese Ressourcen zu bündeln, um so das nötige Volumen zu erreichen und den Strom im Netz anbieten zu können.

Netzbetreiber und ‑eigentümer müssen das Stromangebot und die Stromnachfrage in Echtzeit in Ausgleich bringen, indem sie Engpässe und Ungleichgewichte beseitigen – eine schwierige Aufgabe! Digitale Plattformen können hier helfen. Sie richten sich aber auch an Stromerzeuger – die Eigentümer der verteilten Energiequellen –, weil sie ihnen einen Mehrwert dafür bieten.

In der alten Welt der zentralisierten Strommärkte waren Versorger sowohl Stromerzeuger und ‑verteiler als auch Stromverkäufer und ‑händler. Heute, in den dezentralen Märkten, werden die Kunden selbst aktiv: Sie erzeugen ihren eigenen Strom, verkaufen ihn und handeln damit. Sie sind Prosumenten, also Produzenten und Konsumenten zugleich. All das ist möglich, weil die Plattform als Aggregator Zugang zu den verteilten Energiequellen der Kunden erhält und anschließend den Strom und damit verbundene Dienstleistungen in großer Menge an die Netzbetreiber verkauft.

Darragh: Die Grundidee dieser Plattformen ist der Netzwerkeffekt: Wenn sich mehr Leute beteiligen, steigt der Wert einer Ware oder Dienstleistung. Entscheidend ist der Marktzugang. Und dann geht es darum, die nötige Größe und Transaktionseffizienz zu erreichen. Da sind wir dran.

Salvatore: Es ist nicht viel anders als zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die ersten Telefone auf den Markt kamen und die Telekommunikation noch in den Kinderschuhen steckte. Anfang der 1900er-Jahre hatte ein Telefon noch keinen großen Wert, weil nur sehr wenige Menschen eines hatten. Aber je mehr Teilnehmer die Technik nutzen, desto mehr steigt der Wert des Netzwerks, in unserem Fall der Plattform. Das ist der Netzwerkeffekt.

Wie funktioniert ein digitaler Marktplatz?

Darragh: Ein digitaler Marktplatz übernimmt die Rolle eines Vermittlers zwischen Käufern und Verkäufern. Was er vermittelt, gehört ihm nicht.

Nehmen wir das Beispiel Spedition: Eine digitale Plattform bringt Spediteure, die Fracht von A nach B transportieren können, mit Kunden zusammen, die diese Dienstleistung benötigen.

Über die Plattform können die Beteiligten herausfinden, wer noch Speditionsleistungen anbietet. Bei hinreichender Plattformgröße können die Vermittler auch das Logistiknetz optimieren, indem sie Leerfahrten ermitteln – eines der Hauptprobleme für Spediteure. Sie können dann Ladungen anbieten und so für eine optimale Auslastung sorgen. Die Vermittler können also einen Mehrwert bieten, weil sie Zugriff auf eine große Menge von Daten haben.

Was ist mit dem Datenschutz?

Darragh: Vielfach sind datenschutzrechtliche Fragen zu bedenken, und zum Glück haben wir in der EU die Datenschutz-Grundverordnung, an die sich die Unternehmen halten müssen. In unserem Speditionsbeispiel müssen wir also sicherstellen, dass geeignete technische und organisatorische Vorkehrungen getroffen werden, um die personenbezogenen Daten der Lkw-Fahrer zu schützen.

Das wird auch in Zukunft ein wichtiges Thema bleiben, und viele dieser Unternehmen treiben einigen Aufwand, um die Anforderungen der Datenschutz-Grundverordnung zu erfüllen. Das könnte uns in Europa letztlich einen Vorteil gegenüber anderen Rechtsräumen verschaffen.

Welchen Nutzen bringt ein digitaler Marktplatz?

Darragh: Diese Plattformen bringen viel in stark fragmentierten Märkten wie etwa dem Speditionsgeschäft. Spediteure haben nur begrenzt Zugang zu Großverladern oder Kunden, die Speditionsleistungen benötigen. Eine Plattform verschafft ihnen diesen Zugang und Transparenz, welche Kunden für sie infrage kommen. Damit eröffnen sich ihnen völlig neue Märkte. Generell gilt: Je fragmentierter die Branche, desto größer die Chance, durch Plattformen den Markt grundlegend zu verändern.

Das hat auch für die Endverbraucher erhebliche Vorteile. Nehmen wir eine andere Branche, in der digitale Plattformen den Markt verändern dürften: die Automobilindustrie.

Wer ein Auto kauft, ist normalerweise für einige Jahre an die Marke und ihr Netzwerk gebunden. Verschiedene Plattformen wollen diese Beziehung nun aufbrechen. Wir gehen davon aus, dass in Zukunft weniger Menschen ein Auto besitzen, weil sie eher nach Bedarf einen entsprechenden Service in Anspruch nehmen. Vielen reicht das. Es ist ihnen eigentlich egal, in was für einem Auto sie sitzen, vor allem, wenn es nur für kürzere Zeit ist.

Ist das nicht das Geschäft von Autovermietungen?   

Darragh: Fast, aber was ich meine, ist ein reiner „Pay-as-you-go-Service“ – günstiger und flexibler. Er kann auf einem dezentralen Modell beruhen, das heißt, die Fahrzeuge stehen in der Nachbarschaft und müssen nicht wie ein Mietwagen am Flughafen oder einer anderen zentralen Station abgeholt werden.

Privatbesitzer können so mit ihrem Auto Geld verdienen, wenn sie es gerade nicht brauchen. Damit übernimmt die Plattform die Kundenbeziehung und schaltet die Automarke und die Händler aus. Die Händler haben dann keinen Kundenzugang mehr, sondern stellen die Fahrzeuge nur noch als Dienstleistung zur Verfügung. Das wird die Branche grundlegend verändern und macht die Autohersteller durchaus nervös.

Viele etablierte Branchen haben ein Eigeninteresse daran, den Status quo zu erhalten. Die Leute, die diese Plattform-Dienstleistungen anbieten, kommen oft von außen und zählen zu den Digital Natives. Diese Start-ups haben in der jetzigen Struktur nicht viel zu verlieren.

Eine große Herausforderung wird sein, die großen Akteure auf die Plattformen zu bringen. Das könnte wirklich den Durchbruch bedeuten. Wenn erst einmal genügend große Unternehmen dabei sind, wird es leichter, weil der erwähnte Netzwerkeffekt greift. Tummeln sich mehr Käufer im Markt, kommen auch mehr Verkäufer, und das lockt weitere Käufer an. Dadurch wird es günstiger, weil sich die Kosten auf mehr Transaktionen verteilen.

Ich könnte noch mehr Beispiele aus anderen Branchen anführen. In der Reisebranche etwa hat sich durch Marktplätze in den letzten Jahren viel verändert. Seit es Booking.com, Skyscanner und Airbnb gibt, buchen viele Kunden nicht mehr über Reisebüros.

Salvatore: Zurzeit liegt der Schwerpunkt noch auf Geschäftskunden – dem Business-to-Business- oder kurz B2B-Geschäft –, weil sie rasch in großem Umfang räumlich verteilte Ressourcen anbieten können und die Größe eine Rolle spielt. Aber in Zukunft, wenn Millionen Elektrofahrzeuge auf den Straßen unterwegs sind, wird das für alle ein Thema. Deshalb klemmen sich die Autohersteller auch dahinter und investieren in diese Angebote. Dann wird auch das Geschäft mit Privatkunden – das Business-to-Consumer- oder kurz B2C-Geschäft – attraktiver.

Ist der Zweck dieser Plattformen, in bestimmten Sektoren Monopole aufzubrechen?

Darragh: Der Zweck solcher Plattformen ist vor allem, mit digitalen Technologien und Geschäftsmodellen bestehende Ökosysteme in der Branche auszuschalten und so den Kunden einen Mehrwert zu bieten, in Bezug auf die Kosten, Qualität oder das Kundenerlebnis.  Aus Sicht der EIB geht es darum, die Besten auf diesem Gebiet zu unterstützen und Europas Position im B2B-Geschäft zu sichern.

Digitale Marktplätze haben den Schritt von der Medien- und Unterhaltungsbranche und dem Einzelhandel in andere Bereiche geschafft und setzen sich zunehmend im B2B-Geschäft durch, etwa im Verkehr, in der Logistik, im verarbeitenden Gewerbe, Energiesektor und bei Versorgern. Das ist eine natürliche Entwicklung, die nach und nach die verschiedenen Branchen erfasst. Uns geht es nicht darum, etablierte Akteure im B2C-Geschäft zu verdrängen; wir konzentrieren uns vielmehr auf jene Branchen, in denen Marktplätze das Geschäft maßgeblich verändern werden.

Salvatore: Im Energiesektor bricht die Verschiebung von einem zentralisierten zu einem dezentralisieren Geschäftsmodell eindeutig Monopole auf. Das wird dort gewaltige Auswirkungen auf die gesamte Wertschöpfungskette haben. Derzeit sehen wir ja eine Abwärtsspirale, was die Wertschöpfung in der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien betrifft. Weil die Investitionskosten stark sinken und die intrinsischen Grenzkosten der Stromerzeugung nahe null liegen (der „Brennstoff“ ist kostenlos). Plattformen könnten da gegensteuern, indem sie das Wertschöpfungsangebot verteilter Stromerzeugungsanlagen verbessern. Zu einem gewissen Grad gilt das auch für die Autoindustrie, weil ein Elektrofahrzeug aus bis zu 80 Prozent weniger Bauteilen besteht als ein Auto mit Verbrennungsmotor. Das bringt die Autohersteller unter Druck, sich zusätzliche wertschöpfende Ertragsströme zu erschließen.

Warum und wie beteiligt sich die Europäische Investitionsbank daran?

Salvatore: Alle diese Projekte sind äußerst riskant, weil sich nur sehr schwer vorhersagen lässt, wann wirklich Geld hereinkommt und wie viel. Deshalb können wir so etwas nur mit speziellen Produkten finanzieren, die wir gemeinsam mit der Europäischen Kommission entwickelt haben. Sie stellt dafür die nötige Rückgarantie.

Ein anderes Problem ist, dass der Investitionsaufwand für digitale Plattformen sehr gering ist. Da fallen hauptsächlich Betriebskosten an, für Gehälter im Zusammenhang mit Forschung, Entwicklung und Innovation. Als etablierte öffentliche Bank, die bislang vor allem Infrastruktur finanziert hat, haben wir ein Geschäftsmodell, das stark auf Anlagen mit hohen Investitionskosten zugeschnitten ist. Das ist zu einem gewissen Grad ein weiterer limitierender Faktor bei der Finanzierung solch innovativer Projekte.

Im August haben wir unsere erste Finanzierung für eine digitale Energieplattform abgeschlossen: ein Darlehen über 15 Millionen Euro für das deutsch-schweizerische Start-up Mobility House, das Energie aus verschiedenartigen verteilten Quellen in das Stromnetz integriert. Zielkunden von Mobility House sind derzeit Flottenanbieter, also Unternehmen, die Elektrofahrzeuge an andere Unternehmen vermieten oder sie ihnen per Leasing überlassen – ein B2B-Geschäftsmodell. Das Unternehmen aggregiert aber auch andere verteilte Stromquellen.

bei diesem Projekt geht es nicht nur um Innovation und Digitalisierung, sondern auch um Dekarbonisierung. Digitale Energieplattformen aggregieren unregelmäßig verfügbare erneuerbare Energien und tragen damit zur Dekarbonisierung der Stromindustrie bei. Je mehr Wert diese Plattformen durch ihre Dienstleistungen für das Stromnetz schaffen, desto höher die Attraktivität und Marktakzeptanz erneuerbarer Energien und Elektrofahrzeuge. Deshalb steht ihre Finanzierung voll und ganz im Einklang mit den Klimaschutzzielen der EIB.

Darragh: Ab einer bestimmten Größe bringen diese Plattformen eine höhere Wertschöpfung und eine bessere Netzoptimierung. Und dadurch wachsen sie weiter. Entscheidend ist, in ausreichendem Umfang relevante, hochwertige Daten zu haben. Da liegt der Schlüssel, weil eine mangelhafte Datenqualität zu schlechten Entscheidungen führt, die Käufer und Verkäufer frustrieren. Für uns liegt die Lösung hier in Technologien wie künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen – ein Großteil dieser Entscheidungen wird in Zukunft nicht von Menschen getroffen, sondern von Computern.