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    Es ist ein regnerischer Morgen in Järvenpää, einer Kleinstadt nördlich von Helsinki. Die Straßen sind nass und die Wege matschig, aber der Eingang zur Harjula-Schule ist blitzeblank.

    Rechts und links reihen sich Hakenleisten und Fächer für die Mäntel und Schuhe der Schülerinnen und Schüler. Im Gebäude sind alle in Stoppersocken oder Hausschuhen unterwegs, damit es auch bei schlechtem Wetter sauber bleibt.

    Durch den Flur gelangt man zu einem hellen Atrium mit Tischen und Stühlen, das auch als Cafeteria dient. Die raumhohen Fenster lassen auch an trüben Tagen Licht herein und geben den Blick frei nach draußen – auf das Spielgelände, eine riesige Kiefer (die zu Weihnachten geschmückt wird) und das angrenzende Wohngebiet mit Ziegelhäusern und hellen, fast leuchtend grünen Rasenflächen.

    Am hinteren Ende des Atriums befindet sich eine erhöhte Bühne, die durch eine einziehbare Wand abgeschirmt ist. Dahinter öffnet sich ein größerer Raum, der für Versammlungen, Sportveranstaltungen und Aufführungen genutzt wird. Überall im Gebäude gibt es dicke Faltwände, die sich je nach Gruppengröße öffnen und schließen lassen – ein Kaleidoskop von Räumen, individuell anpassbar, je nach Bedarf.

    Die Idee für dieses Konzept stammt von Schulleiterin Tarja Edry und Jan Mikkonen, der für die Entwicklung der pädagogischen Einrichtungen in Järvenpää zuständig ist. Die Harjula-Schule steht in vielerlei Hinsicht für den nächsten Schritt im finnischen Bildungssystem, das schon jetzt als erfolgreich und hochmodern gilt. „Tarja und ich hatten eine gemeinsame Vision, wo wir hinwollten“, sagt Mikkonen.

    Diese Vision war der Abschied von der herkömmlichen Schule mit ihren langen Gängen und geschlossenen Klassen. An ihre Stelle sollten offene, flexiblere Räume treten, die verschiedene Unterrichtsformen zulassen: Teamunterricht etwa, bei dem die Lehrkräfte Klassen in Gruppen oder gemeinsam betreuen, Teamprojekte, die Austausch und gemeinsame Problemlösung fördern, und Kreativprojekte, bei denen die Kinder sich frei ausdrücken und ihre Talente zeigen können.

    Weil alle Bereiche multifunktional sind, wechseln die Lehrkräfte von einem zum nächsten oder nutzen Räume gemeinsam. Feste Klassenzimmer gibt es nicht mehr. Edry hoffte, die räumliche Öffnung würde die Lehrerinnen und Lehrer aus ihrer Komfortzone holen, sodass sie überdenken, wie Kinder lernen.

    Ein ziemlich radikaler Ansatz, und das brachte auch Konflikte mit sich. Einige Lehrkräfte verließen die Schule. „Manche wollten ihren Unterricht nicht ändern und suchten sich eine andere Schule“, so Edry. Das alte Schulgebäude war so, wie wir es kennen. Jede Lehrkraft hatte ihren eigenen Raum. Jetzt ist es „ganz anders“, sagt sie. „Alle mussten sich daran gewöhnen.“

    Bildung war immer ein Weg zu sozialem Aufstieg. Aber heute ist es nicht mehr so leicht, über Bildung nach oben zu kommen.

    • Merja Narvo-Akkola – Leiterin des Bildungsdezernats von Järvenpää

    Finnlands Bildungssystem zählt nach den Ergebnissen der internationalen Schulleistungsstudie PISA weltweit zu den besten. Aber das Land kämpft mit den gleichen Problemen wie alle anderen: der kürzeren Aufmerksamkeitsspanne von Kindern, die in einer digitalen Welt aufwachsen, Lernrückständen durch die Pandemie, steigenden Fehlstunden und überlasteten Eltern, denen es schwer fällt, Grenzen zu setzen oder – noch wichtiger – Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. „Den Kindern fehlt der Halt“, sagt Edry. „Wir sehen das. Sie möchten wirklich mit Erwachsenen zusammen sein.“

    Finnland steht auch noch vor anderen Herausforderungen. Lange Zeit war es ein homogenes Land, aber das ändert sich. Bis 2030 dürften in Großstädten wie Espoo und Helsinki 25 Prozent der Schulkinder aus eingewanderten Familien stammen. Für sie ist es nicht leicht, Finnisch zu lernen und auf dem gleichen Niveau zu lesen wie ihre muttersprachlichen Mitschülerinnen und Mitschüler. Insgesamt hat sich die Kluft zwischen starken und schwächeren Schülern vergrößert. Besonders Jungen fallen zurück. Hinzu kommen Anzeichen von Kinderarmut, die es in Finnland bislang nicht gab.

    „Bildung war immer ein Weg zu sozialem Aufstieg“, sagt Merja Narvo-Akkola, die Leiterin des Bildungsdezernats in Järvenpää. „Aber heute ist es nicht mehr so leicht, über Bildung nach oben zu kommen.“



    Warum Gebäude wichtig sind

    Wenn Schulleiterin Edry und ihresgleichen Schule neu denken wollen, brauchen sie Unterstützung. In Europa gibt es dafür das Constructing Education Framework – ein neues Konzept für die Finanzierung von Bildungsbauten, gefördert von der Entwicklungsbank des Europarates und der Europäischen Investitionsbank. Die EU-Länder geben jedes Jahr Milliarden Euro für Schulgebäude aus. Wichtig ist aber, das Geld so einzusetzen, dass die Schulen das Lernen bestmöglich unterstützen und die Kinder auf die Zukunft vorbereiten.

    Das Konzept empfiehlt deshalb, Mittel in die pädagogische Weiterbildung der Lehrkräfte zu stecken – damit sie lernen, wie sie die tollen neuen Räume bestmöglich nutzen. Sonst besteht die Gefahr, dass sie darin einfach weiter unterrichten wie bisher.

    „Es hat sich gezeigt, dass wir oft viel Geld in all diese hochmodernen Gebäude investieren, aber die Lehrkräfte dann nicht fit dafür sind“, sagt Yael Duthilleul, die sich bei der Entwicklungsbank des Europarats mit dem Constructing Education Framework befasst. Dann denken Sie: Das ist doch Verschwendung! Für uns als Geldgeber ist das ein Problem, weil wir Mittel für diese Projekte mobilisieren, aber der Lernerfolg, den wir uns davon versprechen, nicht gesichert ist.“

    Das Constructing Education Framework adressiert diese Themen: Weiterbildung und Coaching der Lehrkräfte, Planung, Beratung mit Eltern, Schülerinnen und Schülern – Dinge, die allesamt Zeit und Geld kosten, aber fast nie im Gesamtbudget für neue Schulen mit drin sind.

    „In Finnland können wir das nicht bei den Investitionen einplanen. Wir müssen das Geld irgendwo anders hernehmen“, erklärt Bildungsdezernentin Narvo-Akkola aus Järvenpää. Bei der Harjula-Schule zweigte Edry vom allgemeinen Schulbudget etwas ab und finanzierte damit die Vorbereitung ihrer Lehrkräfte auf das neue Umfeld.

    Unter dem europäischen Rahmen sehen die Budgets für neue Schulen auch Geld für die berufliche Weiterbildung, Beratung mit Bildungsexperten und die spätere Evaluierung vor. So lässt sich nachvollziehen, was am besten funktioniert.

    „Im Moment wird die Finanzierung von Bildungsinfrastruktur als separate Investition betrachtet“, sagt Silvia Guallar, die als Bildungsökonomin bei der EIB mit dem Construction Education Framework zu tun hat. „Stattdessen sollte man das breiter fassen und alle Aktivitäten einbeziehen, die damit zusammenhängen, wie die Beratung der Bildungsgemeinschaft und die Begleitung der Lehrkräfte bei der Umstellung auf die neue Umgebung. Das würde die Unterrichtsgestaltung und den Lernerfolg verbessern.“

    Unterstützung für die Lehrerinnen und Lehrer ist ganz wichtig, wenn Länder ihre starren Bildungssysteme modernisieren wollen. Die Bildungsreform, die Finnland seit 2016 umsetzt, enthält auch ein Kapitel dazu, wie sich ein lernfreundliches Umfeld schaffen lässt. Ein zentrales Thema dabei: Lernen findet überall statt, nicht nur im Klassenzimmer. Ein weiterer Schwerpunkt ist der Unterricht im Team. Er verschafft den Lehrkräften Freiräume für mehr individuelle Betreuung. Aber das geht eben nur, wenn sich die Schule von ihrer herkömmlichen Architektur mit abgetrennten Klassenzimmern und geordneten Tischreihen verabschiedet.

    >@EIB

    Lernen findet überall statt. In der Harjula-Schule üben die Kinder auf der Treppe Englisch

    „Teamunterricht geht einher mit der Vorstellung von flexiblen und gemeinsam genutzten Räumen. Es geht auch darum, lernen überall zu ermöglichen. Das hat natürlich Implikationen für die Einrichtung“, sagt Duthilleul von der Entwicklungsbank des Europarates. „Wenn Sie möchten, dass die Kinder überall lernen, sollten die Möbel zum Verweilen einladen. Wer sich wohlfühlt, kann auch gut lernen.“

    Zusammen mit einer Expertengruppe begleiten Guallar und Duthilleul den Neubau und die Sanierung von zwei Schulen in Espoo, zwei Schulen in Järvenpää (Harjula ist eine davon) und zwei Schulen in Italien. So wollen sie genauer verstehen, wie die neuen Gebäude geplant und anschließend genutzt werden. Die Erkenntnisse könnten sie dann an Behörden in anderen Ländern weitergeben, die Ähnliches planen.

    Erste Daten aus der Evaluierung nach dem Bezug der Gebäude wurden Mitte November auf einer Schulbaukonferenz in Finnland vorgestellt. Järvenpää war zunächst nicht bei dem Projekt dabei, aber Narvo-Akkola hatte in ihrer früheren Verantwortung für den Bildungssektor in Espoo mit dem Construction Education Framework zu tun. Der dortige Bezirk finanzierte seine Bildungsinvestitionen zum Teil mit Krediten der EIB und der Entwicklungsbank des Europarates. Nach ihrem Wechsel nach Järvenpää setzte sie ihre Beratung für das Projekt fort.

    Die EIB vergab in den Jahren 2017 bis 2022 über 9 Milliarden Euro für Bildungsprojekte, 97 Prozent davon in der Europäischen Union. Rund 1 Milliarde Euro gingen allein nach Finnland. Die Entwicklungsbank des Europarates beteiligte sich im gleichen Zeitraum mit etwa 4 Milliarden Euro an Projekten mit Bildungskomponente. Davon flossen 410 Millionen Euro nach Finnland.

    Es geht nicht unbedingt darum, wie viel Geld Sie ausgeben, sondern auch darum, wie effizient Sie es einsetzen. Entscheidend ist, in den richtigen Sektoren das Richtige zu tun.

    • Nihan Koseleci Blanchy – Bildungsökonomin bei der Europäischen Investitionsbank

    Finnland gibt rund 3,8 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für die Schulbildung aus. Das ist laut OECD-Daten vergleichbar mit dem, was andere wohlhabende Länder wie Belgien (4,2 Prozent), Deutschland (2,9 Prozent) oder Frankreich (3,5 Prozent) aufwenden. „Es geht nicht unbedingt um die Summe, die Sie ausgeben, sondern auch darum, wie effizient Sie das Geld einsetzen“, sagt Nihan Koseleci Blanchy. Sie ist als Bildungsökonomin bei der Europäischen Investitionsbank für EIB-Projekte in Finnland verantwortlich. „Entscheidend ist, in den richtigen Sektoren das Richtige zu tun.“

    Das ganze Frühjahr war super stressig, vor der Eröffnung der neuen Schule. Das musste einfach klappen.

    • Tarja Edry – Leiterin der Harjula-Schule

    Das Konzept gibt Edry große Möglichkeiten, ihre Schule in eine offenere, flexiblere Einrichtung zu verwandeln. Das ermöglicht neue Unterrichtsformen wie den Teamunterricht. Der wurde zwar schon vor dem Umbau eingeführt, kann jetzt aber stark ausgebaut werden. Bewerbern sagt sie: „Wenn Sie dazu bereit sind, können Sie zum Interview kommen und sehen, ob es Ihnen wirklich gefällt.“

    Der Umbau war eine Herkulesaufgabe und brachte auch Edry an ihre Grenzen. Mit zwei Assistentinnen zog sie im Frühjahr 2022 in den Neubau ein. Aus den Wänden hingen noch Kabel. Drei Monate hatte sie weder Internet noch Telefon, obwohl sie ja weiter die bisherige Schule leitete. „Ich konnte nicht arbeiten“, sagt sie. „Das ganze Frühjahr war super stressig, vor der Eröffnung der neuen Schule. Das musste einfach klappen.“

    Den ganzen Sommer schuftete sie weiter, um alles startklar zu machen. Im Herbst dann, als der Druck endlich nachließ, hatte sie einen Burnout. Erschöpft nahm sie eine sechswöchige Auszeit, um sich zu erholen. Das Constructing Education Framework soll hier künftig helfen. Mit einem Budget für Kommunen und Schulen, die zusätzliche Unterstützung benötigen, wenn sie neue, innovative Schulen planen, bauen und in Betrieb nehmen.

    Mikkonen sagt, Järvenpää habe aus der Erfahrung gelernt. Man habe danach überlegt, wie die Stadt die Schulleitung hier besser unterstützen kann. Jetzt wird für solche Projekte ein ganzes Team gebildet, dem auch Lehrkräfte und weiteres Personal angehören. „Für Tarja tut es mir leid, dass sie das durchmachen musste. Es war uns nicht bewusst, wie schwer das mit dem Umzug würde“, bedauert er und verweist darauf, dass es für sie beide das erste Großprojekt war. „Aber jetzt haben wir ein Konzept dafür, wie es laufen soll.“

    >@EIB

    Tanja Edry, Leiterin der Harjula-Schule, zwischen zwei Klassenräumen, die sich durch Faltwände trennen und verbinden lassen

    Lieder über eine Traumschule

    Wie schafft man Räume, die sich nach Bedarf öffnen und schließen lassen? Das ist in Finnland ein großes Thema. Viele Schulen setzen auf dicke und damit fast schalldichte Faltwände. (In der Harjula-Schule lassen die Wände rund 42 Dezibel durch; das entspricht in etwa dem Geräuschpegel in einer Bibliothek.) Durch Öffnen der Wände können die Lehrkräfte zwei und mehr Klassen verbinden und so bis zu 50 Schülerinnen und Schüler gemeinsam unterrichten.

    Weil es keine festen Klassenzimmer mehr gibt, wechseln die Kinder immer wieder die Räume. Das Gebäude gliedert sich in drei Bereiche: Tundra, Dschungel und Wüste. Diese Themen haben die Schüler ausgewählt, ebenso wie die Farben: Blau- und Grautöne für die Tundra, grün für den Dschungel, orange und braun für die Wüste.

    Die Kinder waren in die Gestaltung der Schule fest eingebunden. „Sie zeichneten“, berichtet Edry, „und sangen mir vor, was sie sich wünschten.“

    Jeder Raum bietet eine Chance zu lernen. In einem Gang läuft man über ein Quadrat mit farbigen Zahlenblöcken, die sich auf 100 addieren. Weiter hinten zeigt ein riesiger Winkelmesser die Winkel bis 180 Grad an. Die Stufen zum zweiten Stock sind mit den Monaten und Wochentagen auf Finnisch und auf Englisch beschriftet.

     „Wir möchten, dass die Kinder wirklich gut schreiben und rechnen können, wenn sie in die dritte Klasse kommen“, sagt Edry. „Manche verlieren sonst schon in der vierten oder fünften Klasse den Anschluss. Wenn wir sie vor der dritten Klasse auf einem guten Stand haben, läuft es auch in den höheren Klassen.“

    >@EIB

    Im Zweiten Weltkrieg diente ein Teil des Harjula-Campus als Krankenhaus

    Der Campus teilt sich in zwei Gebäude: den Neubau und einen sanierten Backsteinbau, der im Zweiten Weltkrieg als Krankenhaus diente. In Finnland bleiben jüngere und ältere Kinder auf einem Campus zusammen. Das ist ein wichtiges Merkmal der Gesamtschulen, die in den 1970er-Jahren eingeführt wurden. Neben den geschätzten und gut ausgebildeten Lehrkräften gelten sie als Hauptgrund für die guten Bildungsergebnisse des Landes. Auf dem Harjula-Campus, der Teil des Constructing-Education-Projekts ist, besuchen rund 640 Kinder die Schule, Vorschule oder Kita. 

    23 Millionen Euro kostete der Neu- und Umbau – nicht besonders viel für eine Schule dieser Größe. Etwa 5 Millionen Euro flossen in die Sanierung des Altbaus aus den 1930ern, die restlichen 18 Millionen Euro in den modernen Neubau. Mit rund 4 000 Quadratmetern bietet der neue Campus deutlich weniger Platz als zuvor.

    Edry und Mikkonen schrumpften die Fläche pro Schüler von 11 auf 7 Quadratmeter, um das Geld für die schicke Einrichtung zusammenzubringen.

    Alle Klassen und Aktivitäten auf diesem Raum unterzubringen, erfordert eine erstklassige Organisation. Edry zeigt auf eine rechteckige Tafel mit Farbkärtchen für jede Klasse und Aktivität. Zwei Tage lang planen Schulleitung und Kollegium jedes kleinste Detail, bevor im August das Schuljahr beginnt. „Das ist schon ein Stück Arbeit“, schmunzelt Mikkonen.

    >@EIB

    Die Tafel verrät, wie aufwendig die Verteilung der Klassen und Aktivitäten auf die Bereiche und Räume an der Harjula-Schule ist

    Der Neubau bietet mehr als nur Spaß und helle Räume. Er soll den Lehrkräften auch den Umgang mit Kindern erleichtern, die sozial schwierig oder verhaltensauffällig sind oder unter Ängsten leiden – ein wachsendes Problem seit der Pandemie.

    So gibt es beispielsweise einen kleinen Konfliktlösungsraum, in dem Kinder nach einem Streit miteinander sprechen können, auch ohne dass Erwachsene mit dabei sind. Außen an der Tür hängt eine Box für Vorschläge, wie sich das Schulleben und das Miteinander verbessern lassen.

    Für Zusammenkünfte zwischen Eltern, Lehrkräften und Schulleitung gibt es in allen Bereichen große Konferenzräume. „Es kann vorkommen, das sich zehn Personen mit einem Kind befassen“, sagt Edry.

    „Manche Kinder haben so ein zerrüttetes Zuhause. Viele haben Schlimmes erlebt. Aber sie haben eine Chance auf ein anderes Leben, wenn wir früh eingreifen.“

    Der Diamant als Symbol   

    Die Karhusuo-Schule liegt auf einem Hügel in einem dicht bewaldeten Vorort von Espoo. Schulleiterin Mimmu Hellsten blickt aus ihrem Büro auf Bäume und Häuser, die der Herbst in warmes Licht taucht. „Der Anblick von Bäumen und Wäldern tut der Seele gut. Ich meine, das ist auch wissenschaftlich belegt“, sinniert sie.

    Karhusuo ist das finnische Wort für „Bär“. Der Name der Schule soll an eine Bärenhöhle erinnern. Ihr Motto: „Stark wie ein Bär, sanft wie ein Teddy.“ Aber mittlerweile identifiziert sie sich mehr und mehr mit einem anderen Bild.

    Hellsten zeigt einen Bogen Papier, auf dem ein blauer Diamant abgebildet ist. Über dem Diamanten stehen die finnischen Wörter „opin – kasvan – kehityn“ (ich lerne, wachse und entwickle mich). Die Umgebung, in der Kinder lernen, bildet den äußeren Rahmen um die Abbildung: das soziale, physische, geistige und digitale Umfeld. Rund um den Diamanten steht geschrieben, was Kinder zum Lernen motiviert: Ich kann Gutes tun/Ich bin akzeptiert/Ich bin emotional dabei/Ich kann Einfluss nehmen und mitmachen/Ich kann es schaffen.

    Der Diamant hängt überall in der Schule als Plakat aus. Die Schule, erklärt Hellsten, habe ihn als Symbol gewählt, weil er „für etwas ganz Besonderes, Wertvolles steht. Und, weil es Zeit und Energie kostet, bis er fertig ist.“

    >@EIB

    Diamantplakat in der Karhusuo-Schule

    Jeden August, wenn das neue Schuljahr beginnt, geht die Schulleitung den Diamanten mit dem Kollegium und den Hilfskräften durch, um ihn den Neuankömmlingen zu erklären und bei den Übrigen wieder aufzufrischen. Danach besprechen die Lehrkräfte das Konzept mit ihren Klassen.

    „Der Diamant beschreibt unsere Ziele für jedes Kind“, sagt Hellsten. „Sie sollen das Gefühl haben ‚Ja, ich kann es schaffen. Das ist nicht zu schwer für mich. Ich kann mitmachen. Ich werde gehört‘.“

    Besonders mühsam ist es, eine gute Gruppendynamik zu erzeugen. Hellsten, Edry und ihre Lehrkräfte beklagen, dass viele Kinder sich nicht mehr in eine Gruppe einfügen können. Teil des Problems ist, dass Eltern Kinder nicht mehr maßregeln wollen, wenn sie sich in der Schule schlecht benehmen. „Die Eltern glauben ihren Kindern alles, was sie sagen“, beobachtet Hellsten. „Sie haben nicht mehr so viel Zeit für ihre Kinder und wollen die knappe Zeit mit ihnen fröhlich verbringen.“

    Wenn Kinder keine Grenzen kennen, schafft das Probleme in der Gruppe. Es fällt ihnen schwer, anderen Raum zu geben und Aufmerksamkeit zu gewähren. Hinzu kommt, dass die sozialen Fähigkeiten in der Pandemie gelitten haben. In Finnland blieben die Schulen nur drei Monate geschlossen, aber schon das hat Spuren hinterlassen. „Es war schrecklich“, erinnert sich Hellsten.

    Und dann die Handys – eine Geißel. Die Kinder verbringen zu viel Zeit an ihren Mobilgeräten. Viele schlafen deshalb schlechter und können sich nicht gut konzentrieren. „Ein Buch lesen oder auch nur ein Kapitel – viel zu lang. Das ist ihnen viel zu langweilig“, sagt Salla Ruohomäki, die seit fast 20 Jahren Chemie und Ernährung unterrichtet. „Mehr als zwei Seiten sind nicht drin.“

    Besondere Sorge bereitet die wachsende Kluft zwischen den Ergebnissen leistungsstarker und schwächerer Kinder. Früher lagen die meisten irgendwo in der Mitte, und dieses breite Mittelfeld war der Hauptgrund, warum Finnland in den PISA-Tests so gut abschnitt, sagen Fachleute. Aber in den letzten Jahren ist das Land abgerutscht und musste wie viele europäische Länder vor allem in der kürzlich veröffentlichten PISA-Studie 2022 schwer Federn lassen.

    „Viele, die im Mittelfeld landen könnten, wollen sich nicht mehr anstrengen, um besser zu werden“, glaubt Arto Niva, der Chemie und Physik unterrichtet. „Sie denken: ‚Ja, vielleicht könnte ich diese Note erreichen, aber dafür muss ich viel tun. Dazu habe ich keine Lust.‘“

    >@EIB

    Sofia Repo, Arto Niva und Salla Ruohomäki (v.l.n.r.) unterrichten an der Karhusuo-Schule

    Hellsten und ihr Team befassten sich deshalb mit Motivationstheorien und entwickelten danach das Konzept mit dem Diamanten. Was ihnen klar wurde: Der Gedanke, positiv zu einer Gruppe beizutragen, motiviert Menschen. Mit dieser Erkenntnis wollte Hellsten auch einem anderen Problem beikommen – dem schwachen Abschneiden der Jungen in Lesen, Mathe und Naturwissenschaften.

    Die PISA-Ergebnisse verblüfften Hellsten. „Ich fragte mich: ‚Was machen wir falsch? Warum sind die Jungen nicht gut?‘ In der Politik und Wirtschaft haben wir doch meistens Männer an der Spitze.“

    Um die Jungen wieder heranzuholen, organisierte die Karhusuo-Schule ein Fußballturnier mit acht Mannschaften aus allen Stufen. Das lockte die Jungen aus der Reserve. Sie stellten die Mannschaften auf, planten die Spiele und kämpften am Nachmittag auf den Platz. „So gaben wir den Jungen das Gefühl, etwas Gutes für die ganze Schule zu tun“, glaubt Hellsten.

    Der Diamant beschreibt unsere Ziele für jedes Kind. Sie sollen das Gefühl haben ‚Ja, ich kann es schaffen. Das ist nicht zu schwer für mich. Ich kann mitmachen. Ich werde gehört‘.

    • Mimmu Hellsten – Leiterin der Karhusuo-Schule

    Moderne Räume für moderne Probleme

    Hellsten und ihr Team hatten die heutigen Bildungsprobleme im Hinterkopf, als sie ihre Schule planten. Der Campus umfasst einen modernen Holzbau für die Grundschule, der vor rund fünf Jahren entstand, und einen drei Jahre alten Ziegelbau für die Klassen sieben bis neun. Er ist Teil des Constructing-Education-Projekts.

    In der Karhusuo-Schule ist vieles ähnlich wie auf dem Harjula-Campus. Räume lassen sich leicht verändern. Eine Faltwand verbindet die lichtdurchflutete Aula mit einer größeren Sporthalle. In ein paar kleineren Räumen können Lehrkräfte mit Kleingruppen arbeiten, und es gibt auch besondere Räume für Klassen von bis zu acht autistischen Kindern mit zwei Lehr- und vier Hilfskräften. Finnland integriert Kinder mit Einschränkungen wie Autismus in seine Gesamtschulen. Der Campus hat außerdem einen eigenen Luftschutzbunker, der für alle Schulen in Finnland vorschrieben ist.

    Das weitläufige Gelände bietet Platz für rund 350 Kinder in der Grundschule und gut 200 weitere in der unteren Sekundarstufe. Wie in der Harjula-Schule sind in den Gebäuden alle in Stoppersocken und Hausschuhen unterwegs.

    >@EIB

    Schulleiterin Mimmu Hellsten vor einem beweglichen Gedicht mit Zeilen wie „Im Unterricht laufen die Schüler weg“ und „Die Gehirne der Kinder frieren"

    Hellsten beteiligte sich zusammen mit vier Lehrkräften an der Planung der Schule. „Wir mussten das nicht tun, aber ich wollte die Gelegenheit nutzen, unsere Wünsche zu äußern – und von den Architekten zu hören, warum dies nicht möglich ist oder jenes keine gute Wahl“, erklärt sie. „So konnte ich auch verstehen, wie das Gebäude funktioniert und warum es so gemacht wurde. Das war mir sehr wichtig.“

    Die Architekten luden zuvor Kinder zu Workshops ein, um deren Ideen für ihre Traumschule zu besprechen. Ein Wunsch der Kinder waren kleinere Räume, in denen sie für sich arbeiten oder Abstand gewinnen können. Das wurde bei der räumlichen Gestaltung berücksichtigt. „Das hilft bei Beklemmungen“, so Hellsten. „Die Kinder können sich eine Zeit lang aus der Gruppe ausklinken.“

    Bei der Raumplanung und Vorbereitung auf den Einzug wurde die Schule von außen beraten. So gab es weniger Stress und Unruhe. Auf professionelle Beratung setzten Hellsten und ihr Team auch bei der Weiterbildung zu Gruppendynamik und Motivationstheorien.

    Aber auch hier kam das Geld für Coaching und Training aus dem Budget der Schule.

    >@EIB

    Nach dem Unterricht in der Bibliothek

    Die Lehrerinnen und Lehrer der Karhusuo-Schule loben, was Hellsten geschaffen hat. Dank der positiven Kultur kommen sie besser mit dem enormen Druck zurecht, unter dem sie stehen. Ihre und die Harjula-Schule haben all das erreicht, weil ihre Schulleiterinnen eine Vision hatten und sie beharrlich verfolgten. Nicht alle Schulen haben Leute an der Spitze, sie so dafür kämpfen. Das Constructing Education Framework soll Innovation allgemein unterstützen. Das reicht von neuen Denkansätzen bei der Planung von Schulgebäuden bis zu Coaching für Schulleitung und Lehrkräfte. Sie müssen lernen, wie sie die Chancen der neuen Räume so nutzen, dass die Kinder besser lernen.

    Finnland glaubt an die Macht der Bildung auf dem Weg zu einer stabileren Gesellschaft, die zusammenhält. Die Karhusuo-Schule liegt in einer gehobenen Wohngegend, aber ein Drittel der Schulkinder kommt aus ärmeren Stadtvierteln. Außerdem gibt es in Finnland nur wenige Privatschulen – die meisten Schülerinnen und Schüler durchlaufen das öffentliche System.

    „Wir sind ein kleines Land. Unsere Stärke ist diese Schulbildung, die es kostenlos gibt“, meint Hellsten. „Wir investieren in die Kinder, damit sie ihre Sache gut machen, sich wohlfühlen und gut lernen. Dann können sie ihre Fähigkeiten nutzen und ihre Stärken finden.“

    „Ja, das kostet Zeit und Geld“, sagt sie. „Aber es zahlt sich in der Zukunft aus. Und wenn wir da heute sparen, kostet es später noch viel mehr.“