CO2-intensive Industrieunternehmen wissen, dass sie etwas ändern müssen. Welche neuen Technologien können ihnen dabei helfen?

Der Klimawandel ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Ein Lösungsweg, der auch in der Politik und Industrie ganz oben auf der Agenda steht, ist die Dekarbonisierung industrieller Prozesse.

Doch was genau ist unter Dekarbonisierung zu verstehen? Kristian Uppenberg, Leiter der Abteilung Advanced Materials bei der Europäischen Investitionsbank, und EIB-Ingenieur Marc Tonteling kennen sich mit energieintensiven Branchen aus und klären auf.

Dekarbonisierung – was ist das?

Marc: Die Industrie stößt Treibhausgase aus, vor allem CO2. Gerade energieintensive Branchen wie Stahl, Zement, Glas oder Kunststoffe sind für etwa 15 Prozent aller weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. Um die Erderwärmung zu stoppen, müssen diese Emissionen reduziert und schließlich ganz unterbunden werden. Zur Veranschaulichung: Energieintensive Industrien arbeiten mit hohen Temperaturen und/oder chemischen Prozessen. Hohe Temperaturen lassen sich leicht durch Verbrennung kohlenstoffhaltiger Brennstoffe erreichen. Aber das setzt Treibhausgase frei. Zudem fällt CO2 manchmal als Nebenprodukt notwendiger chemischer Umwandlungsprozesse an. Für energieintensive Unternehmen ist die Abkehr vom Kohlenstoff deshalb nicht leicht. Es reicht nicht aus, auf andere Energiequellen oder Brennstoffe auszuweichen, denn Kohlenstoff wird auch als Rohstoff eingesetzt und spielt eine wichtige Rolle bei chemischen Umwandlungsreaktionen.

Kristian: Typisch für energieintensive oder Prozessindustrien ist ja, dass ihre chemischen Reaktionsverfahren oft kein eigenständiges Produkt, sondern einen neuen Stoff oder eine neue Verbindung hervorbringen. Die Stoffe, die in diese Prozesse einfließen, sind für jede Branche anders, und folglich gehen auch die CO2-Emissionen auf unterschiedliche Quellen zurück. Dekarbonisierungstechnologien sind deshalb prozessspezifisch. Kohlenstoff wird als Energiequelle und als Rohstoff verwendet. Das macht die Dekarbonisierung dieser Industrien so schwierig. Wenn es nicht gelingt, diese Emissionen und ihre Quellen aufzufangen und ihren Ausstoß in die Atmosphäre zu verhindern, müssen alternative chemische Prozesse her, die den gewünschten Output ohne CO2 als Nebenprodukt erzeugen. Die Dekarbonisierung der Industrie wäre ein wichtiger Schritt, um Europa bis 2050 klimaneutral zu machen und die Ziele des Pariser Abkommens zu erreichen. Als Zwischenschritt hat sich Europa verpflichtet, seine CO2-Emissionen bis 2030 zu halbieren. Das bedeutet: Wir brauchen sehr schnell radikale Veränderungen.

Wie läuft die Dekarbonisierung ab?

Marc: Alle möglichen Sektoren haben schon technische Fahrpläne für die Dekarbonisierung energieintensiver Industrien aufgestellt. Am häufigsten tauchen darin fünf Technologien auf:

  • die Elektrifizierung der Wärmeerzeugung, d. h. Öfen werden mit Strom anstatt mit Brennstoffen betrieben – selbstredend mit Ökostrom!
  • die Verwendung von Wasserstoff als Brennstoff für Öfen, als Rohstoff in Chemikalien oder als Reagenz in chemischen Prozessen
  • die Verwendung von Biomasse als Brenn- oder Rohstoff, d. h. Kohle wird durch Biokohle oder Gas durch Biogas ersetzt. Ein Beispiel ist Holzkohle. Sie entsteht bei der Umwandlung von Holz in Kohle und ist klimaneutral
  • die Kohlenstoffabscheidung und -speicherung – hierbei werden Treibhausgase von anderen Industriegasen getrennt, komprimiert und in unterirdische Lagerstätten gepumpt, sodass sie nicht in die Atmosphäre gelangen
  • die Kohlenstoffabscheidung und –speicherung, d. h. Industriegase werden in etwas Nützliches umgewandelt, etwa in Ethanol oder in Rohstoffe für die chemische Industrie

Viele dieser Technologien und Lösungen stecken noch in den Kinderschuhen. Oft sind sie deutlich teurer als herkömmliche Verfahren. Um sie in großem Maßstab nutzbar und wettbewerbsfähig zu machen, muss enorm viel in Forschung und Entwicklung investiert werden – auch in Pilot- und große Demonstrationsanlagen.

Dekarbonisierungstechnologien erfüllen nur ihren Zweck, wenn sie grüne/erneuerbare Energie nutzen

Kristian: Die Elektrifizierung ist sicher ein vielversprechender Ansatz, aber nur sinnvoll, wenn der Strom grün ist.

Zudem müssen Dekarbonisierungstechnologien auf dem freien Markt mit konventionellen Technologien konkurrieren können. Bislang ist das häufig nicht der Fall. Die CO2-neutrale Produktion ist einfach zu teuer. Und hier kommt das EU-Emissionshandelssystem (EU-EHS) ins Spiel – ein Auktionssystem, über das energieintensive Industrien CO2-Emissionsrechte kaufen müssen. Ohne diesen Preismechanismus für CO2-Emissionen wären die schmutzigen Lösungen immer die billigsten.

Mit der Zeit wird das Recht, CO2 auszustoßen, immer teurer, weil die Zahl der Emissionsrechte schrumpft. Energieintensive Industrien haben daher einen enormen Anreiz, auf kohlenstoffarme Technologien umzusteigen, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben wollen. CO2-intensive Produktionsprozesse werden sich immer weiter verteuern, weil die Kosten der Emissionen steigen. Gleichzeitig dürften klimaneutrale Produktionsverfahren immer billiger werden, weil Technologien verbessert und in größerem Maßstab eingesetzt werden. Irgendwann in der Zukunft, wenn der Preis der CO2-Emissionen deutlich höher ist als heute, ist die emissionsintensive Produktion nicht mehr wettbewerbsfähig.

Weiteres Problem: Die klimaneutralen Produktionsprozesse müssen mit Materialien konkurrieren, die von außerhalb der EU importiert werden und billiger sind, weil sie konventionell hergestellt werden.

Marc: Wir brauchen einheitliche Wettbewerbsbedingungen. Wenn diese Regeln nur für Europa gelten, können bestimmte Sektoren im globalen Wettbewerb sicher nicht bestehen. Hier liegt der Unterschied zwischen nationalen und internationalen Märkten. Produkte wie Stahl, Kunststoff, bestimmte Chemikalien und Glas werden weltweit gehandelt. Sie können aus anderen Teilen der Welt mit weniger strengen Standards importiert werden und sind dann billiger. Andere Produkte wie Strom werden nicht weltweit gehandelt. Das ist sicher einer der Gründe, warum der Stromsektor bereits verstärkt auf kohlenstoffarme oder erneuerbare Energiequellen zurückgreift.

Gibt es einen Unterschied zwischen Dekarbonisierung und Energieeffizienz?

Kristian: Mehr Energieeffizienz kann eine Menge zur CO2-Reduzierung beitragen, vor allem in einer Welt, in der die Energie nicht umweltfreundlich erzeugt wird. Aber in bestimmten Sektoren reicht das allein nicht aus, um Treibhausgasemissionen vollständig zu vermeiden. Wir müssen deshalb den Prozess selbst ändern und zwar so, dass kein CO2 als Nebenprodukt ausgestoßen wird. Oder aber wir scheiden das CO2 ab und speichern es im Boden. Damit kommen wir auch zum Unterschied zwischen Dekarbonisierung und Energieeffizienz. Bei „Effizienz“ geht es im technischen Sinne darum, Verluste zu minimieren. Bei der Umwandlung von Energiearten gibt es immer Verluste. Durch weitere Optimierung und Innovation können wir verschiedene konventionelle Prozessschritte energieeffizienter gestalten, allerdings nur innerhalb bestimmter Grenzen. Mit anderen Worten: Bei Prozessen, bei denen z. B. CO2 als Nebenprodukt anfällt, würde selbst ein hocheffizientes Verfahren immer noch mit einem beträchtlichen CO2-Ausstoß einhergehen. In einem solchen Fall würden wir deshalb sogar einen weniger energieeffizienten Prozess akzeptieren, wenn sich dadurch CO2-Emissionen vermeiden lassen. So verbraucht etwa die Abscheidung und Speicherung von CO2 zusätzliche Energie, die wir nicht benötigen, wenn wir es einfach in die Atmosphäre freigeben. Das bedeutet auch, dass wir für die Dekarbonisierung der Industrie deutlich mehr Strom aus erneuerbaren Energien benötigen, weil kohlenstoffarme oder -freie Prozesse oft weniger energieeffizient sind.

Zum Glück lässt sich Ökostrom heute bereits recht kostengünstig erzeugen. Das trägt sicherlich dazu bei, dass die Elektrifizierung industrieller Prozesse wettbewerbsfähiger wird.

Marc: Was Prozessänderungen noch komplizierter macht, ist die Ausrüstung. Die darf nämlich nicht veraltet sein. Nehmen wir als Beispiel die Automobilindustrie. Für eine klimaneutrale Mobilität sollen Elektroautos eingesetzt werden, und die unterscheiden sich gewaltig von herkömmlichen Autos. Also muss in neue Anlagen oder Ausrüstung investiert werden. Damit nicht genug: Die Dekarbonisierung funktioniert nur, wenn die Anlagen auch mit Ökostrom betrieben werden. Vor einer ähnlichen Herausforderung stehen die energieintensiven Industrien. Um ihre Prozesse zu dekarbonisieren, müssen sie ihre Anlagen ersetzen, und sie benötigen jede Menge grünen Strom. Verglichen mit Kohle oder Erdgas ist Strom eine teure Energieform.

Funktioniert die Dekarbonisierung auch ohne höheren Energieverbrauch?

Kristian: Es ist schwierig, mit diesen Dekarbonisierungstechnologien neue Materialien herzustellen. In vielen Fällen wird mehr Energie benötigt. Andererseits können wir auch recycelte Materialien verwenden, die die ersten Phasen bereits durchlaufen haben. Beim Stahl hat beispielsweise die kohlenstoffintensive Phase der Umwandlung von Eisenerz in Stahl bereits stattgefunden. Deshalb wollen wir möglichst viel recyceln – vor allem in Prozessen, bei denen dafür weniger Energie verbraucht wird oder bei denen sich mit recycelten Materialien die erneuten CO2-Emissionen bei der Primärproduktion vermeiden lassen. Allerdings können wir nicht die gesamte Nachfrage aus diesen Materialien decken – die Nachfrage nach recycelten/ sekundären Rohstoffen wächst schneller als das Angebot.

Ein wichtiger Faktor ist der vorhandene Bestand. Europäische Länder und die USA, die sich seit Jahrzehnten wirtschaftlich gut entwickeln, verfügen über einen großen Bestand an Stahl, der in der Wirtschaft zirkuliert und recycelt werden kann. Ganz anders in China: Das Land wächst so schnell, dass der Bestand an recycelbarem Stahl bei Weitem nicht ausreicht, um neue Städte, neue Infrastruktur und neue Fabriken zu bauen.

Marc: Materialeffizienz spielt bei der Dekarbonisierung ebenfalls eine große Rolle. Das heißt, wir müssen unseren Verbrauch an Stahl, Glas oder Zement reduzieren,

Kristian: In allen Branchen sehen wir einen Trend, möglichst wenig Material zu verbrauchen. Stichwort Plastikwasserflasche: Die ist heute viel dünner als noch vor zwanzig Jahren. Auch in der Automobilindustrie wird auf diesem Gebiet viel geforscht. Hier will man mit moderneren Stählen und einem geringeren Materialverbrauch leichtere Karosserien haben, die die gleichen strukturellen Eigenschaften aufweisen.

Marc: Aber um es nochmals zu betonen: Es reicht nicht, recyceltes oder weniger Material zu verwenden. Europa produziert jährlich etwa 160 Millionen Tonnen Stahl. Davon sind 60 Millionen Tonnen recycelt, 100 Millionen Tonnen sind Primärstahl, d. h. Eisenerz wurde in Eisen und dann in Stahl umgewandelt. Dieser Bedarf an Primärstahl dürfte sich in den nächsten 50 Jahren oder sogar bis 2100 nicht wesentlich ändern. Nicht so in weniger entwickelten Volkswirtschaften: Hier wird der Bedarf an Primärstahl mit der wachsenden Weltbevölkerung sogar noch steigen.

Warum und wie unterstützt die Europäische Investitionsbank die Dekarbonisierung?

Marc: Vieles davon hat mit Innovation zu tun, und die Förderung von Innovation ist eine der Kernaufgaben der Bank. Wir unterstützen all diese Industriezweige, indem wir ihre Forschungs- und Entwicklungsprogramme finanzieren – in bestimmten Fällen auch ihre Demonstrationsprojekte. Das heißt, wir bieten ihnen Finanzierungen vom Frühstadium im Forschungslabor bis hin zur Demonstration in der vorkommerziellen Phase an.

Zurzeit nutzen diese Branchen noch konventionelle Technologien. Für die kohlenstoffarmen Lösungen brauchen sie neue Anlagen, die oft energieintensiver sind und andere, teurere Energiearten oder Rohstoffe erfordern. Diese Lösungen sind oft nicht sehr ausgereift und bergen daher ein technologisches Risiko. Die Europäische Investitionsbank steht innovativen Unternehmen zur Seite, ganz gleich, ob es sich dabei um große, kleine oder mittelgroße Unternehmen handelt.