Präsident Werner Hoyers Rede auf dem 24. Euro Finance Summit, in der er eine stärkere Integration der Kapital-, Banken- und Dienstleistungsmärkte Europas und höhere Investitionen fordert.


Es gilt das gesprochene Wort


>@EIB

Sehr geehrter Herr Scholz,

lieber Luis de Guindos,

sehr geehrte Damen und Herren,

 

ich freue mich, bereits zum zweiten Mal am Eröffnungstag der Euro Finance Week auftreten zu dürfen, um mit Ihnen über Europa und die enormen Herausforderungen zu sprechen, vor die uns der Klimawandel und – noch immer – die Pandemiefolgen stellen.

Deutschland steht kurz davor, eine neue Bundesregierung zu bekommen, aus SPD, Grünen und FDP. Die Koalitionsverhandlungen lassen auf Innovationsfreude der neuen Regierung und einen Aufbruch in eine klimagerechtere Zukunft hoffen.

Allerdings: Der Verlauf der Gespräche lässt mich auch befürchten, dass Europa zu wenig Beachtung findet. Denn bereits im Bundestagswahlkampf spielte Europa kaum eine Rolle. Das spiegelt leider ein generelles Phänomen wider, meine Damen und Herren: Wir haben uns in den letzten Jahren angewöhnt, Europapolitik auf Krisenpolitik zu reduzieren. 

Natürlich ist Europa an seinen Krisen gewachsen. Bereits Jean Monnet, Vordenker der EU, formulierte in den 1950er-Jahren: Europas Einheit wird „in Krisen geschmiedet, und Europa wird sein wie die Lösungen, die wir für diese Krisen finden“. 

Zu seiner Zeit, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, besiegte die gemeinsame Agrarpolitik den Hunger. Die Montanunion begegnete der Stahlkrise. Die Zollunion von 1968 ebnete den Weg zum Binnenmarkt.

In jüngster Zeit ließen der Brexit und – nach anfänglichen Rückfällen ins Nationalstaatliche – die Pandemie die Europäer enger zusammenrücken.

Ja, Europa hat viel zur wirtschaftlichen Erholung nach den pandemiebedingten Lockdowns beigetragen. Nachdem EZB-Präsidentin Christine Lagarde früh in der Krise eine europäische Reaktion nach dem Motto „fat, fast and flexible“ verlangt hatte, machte die EU sehr vieles richtig:

  • Die Verschuldungsgrenzen des Stabilitätspakts und die Beihilferegeln wurden gelockert, um große nationale Hilfspakete zu ermöglichen.
  • Für Impfstoffe wurden die Mittel für Forschung, Produktion und Verteilung massiv hochgefahren, und
  • über die Europäische Investitionsbank wurde EU-weit Liquidität für Unternehmen bereitgestellt.

Die EU hat damit gezeigt, dass sie aus der Finanzkrise und der folgenden Eurokrise gelernt hat. Denn damals waren ihre Reaktionen gerade in der Frühphase nicht „fat, fast and flexible“, und es dauerte Jahre, bis die Krise 2015 endlich unter Kontrolle war.

Doch auch wenn Europa seine Krisen meist in Erfolge ummünzt: Wieso eigentlich sollten wir uns damit zufriedengeben? Warum achten wir nicht viel sorgfältiger darauf, dass wir auch zwischen den Krisen an einem starken und schlagkräftigen Europa arbeiten?

Wir täten so gut daran.

In einer Welt des „America first“, „Russia first“ und „China first“ brauchen wir die EU mehr denn je. Nur mit ihr bleiben wir handlungsfähig und können die globale Entwicklung mitgestalten.

Das wusste übrigens Jean Monnet schon 1954, als er sagte: „Unsere Länder sind zu klein geworden für die gegenwärtige Welt [...], gemessen an dem Amerika und Russland von heute und dem China und Indien von morgen.“

Wie viel mehr gilt dies heute! 1954 hielt Europa einen Anteil von 37 Prozent am weltweiten Bruttoinlandsprodukt und machte 13 Prozent der Weltbevölkerung aus. Heute ist der Anteil an der Weltwirtschaftsleistung auf magere 15 Prozent geschrumpft, der Anteil an der Weltbevölkerung beträgt nur noch knapp 7 Prozent. Der Anteil Deutschlands an der Weltwirtschaftsleistung liegt bei nur noch drei Prozent.

Jeder europäische Nationalstaat ist also, global betrachtet, ein Zwerg. Keiner hat genug Gewicht, um sich allein in weltweiten Handelsgesprächen Gehör zu verschaffen und die Handelsbedingungen wesentlich zu beeinflussen.

Europa ist deshalb wichtiger denn je, und keinesfalls nur aus wirtschaftlichen Gründen. Eine starke EU ist auch der Schlüssel zum Erhalt unserer sozialen Sicherungssysteme.

Durch die Globalisierung sinkt die Fähigkeit einzelner Länder, Unternehmen zu besteuern und ihre Sozialsysteme zu finanzieren. Im freien Kapitalverkehr können Unternehmen Unterschiede zwischen Steuersystemen frei zu ihrem Vorteil nutzen. Diese grenzenlose Freiheit wird jetzt durch die neue globale Mindeststeuer zumindest ein wenig eingehegt. Aber global tätige Unternehmen können noch immer damit drohen, Stellen abzubauen und die Produktion ins Ausland zu verlagern.

Staaten sind in dieser Situation versucht, ihre Arbeits- und Sozialstandards abzusenken, um sich so Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Ohne gemeinsame Mindeststandards führt dies zu einer Abwärtsspirale und macht es schwieriger, Sozialstandards zu verteidigen.

All dies sind nicht Fragen für Spezialisten, sondern für uns alle. Ein „Race to the bottom“ würde den Rückhalt für unsere Werte Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Freiheit und Zusammenhalt in der Bevölkerung schrumpfen lassen und Populisten Rückenwind verschaffen. Der Brexit und die Regierungszeit Trumps in den USA sollten uns hier eine Warnung sein.

Meine Damen und Herren,

nur wenn Europa seine Kräfte bündelt, können sich die Mitgliedstaaten gegen solche Entwicklungen behaupten. Und nur gemeinsam, durch Innovationen und Kooperationen, werden die EU-Staaten ihren technologischen Rückstand gegenüber den USA und China wieder aufholen können. Fast 20 Jahre zu geringer Investitionen aller EU-Mitgliedstaaten wirken nach.

Nur wenigen europäischen Erfindern gelingt es heute, innovative Produkte und Dienstleistungen über die Grenzen ihres Heimatlandes hinaus erfolgreich zu vermarkten.  

Europa nutzt hier sein Potenzial zu wenig. Bis heute haben wir in der EU zwar einen Binnenmarkt für Waren, aber keinen vollständig funktionsfähigen Markt für Dienstleistungen: Beschäftigte aus einem EU-Land sind in den anderen mit neuen Meldepflichten konfrontiert, Berufsqualifikationen werden jenseits nationaler Grenzen oft nicht anerkannt, und es fehlen allerorten die eigentlich in der EU-Dienstleistungsrichtlinie vorgeschriebenen Beratungsangebote für EU-Einwanderer.

Das lähmt vor allem die so wichtige Digitalwirtschaft, die dringend einen großen Heimatmarkt mit 450 Millionen Menschen gebrauchen könnte, um mit Start-ups in China oder den USA mithalten zu können.

Wenn ein Start-up im Silicon Valley ein gutes Produkt entwickelt, findet es sofort einen riesigen Heimatmarkt vor – und kann dort so weit wachsen, dass es danach global bestehen kann. In Europa dagegen müsste dasselbe Start-up schon in einer frühen Phase so viele Juristen beschäftigen, die sich mit ausländischem Steuer- oder Verbraucherrecht auskennen, dass eine Internationalisierung sich kaum lohnt oder zumindest viel, viel langsamer verläuft.

Es fehlen zudem eine Kapitalmarktunion und eine echte Bankenunion mit einer gemeinschaftlichen Einlagensicherung. Bis heute müssen sich Investoren in Europa mit unterschiedlichen Insolvenz-, Wertpapier- und Verbraucherregeln auf den 27 nationalen Teilmärkten herumschlagen.

Konkurrenzfähig gegenüber dem großen US-Kapitalmarkt ist keiner dieser Teilmärkte. Deshalb scheuen Aktionäre und Käufer von Unternehmensschuldverschreibungen vor Angeboten jenseits nationaler Landesgrenzen zurück. Mit der Folge, dass zu wenig Risikokapital in innovative Start-ups fließt und Investoren an Rendite einbüßen.  

Auch die Vollendung der Bankenunion, die eine einheitliche Bankenaufsicht, einen Bankenabwicklungsmechanismus und eine gemeinschaftliche Einlagensicherung vorsieht, scheitert noch immer an den Ängsten des Nordens, womöglich Banken im Süden retten zu müssen. Dabei schneiden in den regelmäßigen Stresstests spanische und italienische Banken ähnlich gut ab wie die deutschen.

Meine Damen und Herren,

eine starke Europapolitik, die auf eine stärkere Integration an all diesen Fronten hinarbeitet, wäre dringend erforderlich. Wir dürfen diese für die europäische Wettbewerbsfähigkeit so wichtigen Fragen nicht ewig aufschieben und uns damit begnügen, dass Europa in Krisenzeiten zur Stelle ist.

Das wäre auch wichtig für ein anderes Thema: Investitionen!

Seit der Jahrtausendwende hat Europa im Durchschnitt in jedem Jahr weniger als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung investiert, obwohl wir uns bereits mit der Lissabon-Strategie 2000 ein Drei-Prozent-Ziel dafür vorgegeben hatten.

Wir brauchen dringend mehr Investitionen auch in unsere Infrastruktur. Ich denke vor allem daran, dass wir bei der digitalen Infrastruktur weit unter unserer eigentlichen Gewichtsklasse boxen. Mit diesem Rückstand werden wir beim Internet der Dinge nicht mithalten, geschweige denn führen können – obwohl wir hier mit den Stärken unserer Industrie eigentlich die allerbesten Voraussetzungen hätten.

Die Engpässe setzen sich in anderen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens fort. Die Schulen sind ein Beispiel dafür, der schleppende Ausbau von Stromtrassen ein anderes. Je länger wir mit pragmatischen und gangbaren Lösungen warten, desto teurer wird es, desto größer wird der Wettbewerbsnachteil, und desto flacher wird unser Wachstumspfad ansteigen.

Die Förderung neuer Technologien, eine bessere Infrastruktur und die Transformation in eine nachhaltige und digitale Wirtschaft und Gesellschaft erfordern enorme Summen. Allein im Kampf gegen den Klimawandel muss Europa nach Berechnungen der EU-Kommission in diesem Jahrzehnt 350 Milliarden Euro investieren – zusätzlich, in jedem einzelnen Jahr dieser Dekade.

Woher also soll nun dieses Geld kommen, meine Damen und Herren? Dies ist die Frage, die sich gerade auch die Koalitionäre in Berlin stellen – und das vollkommen zurecht:

Wir können nicht mehr einfach auf dauerhaft niedrige Zinsen bauen. Und damit auch nicht auf eine immer höhere Verschuldung. Ebenso schädlich wäre es aber, wenn wir gewaltige Staatsausgaben über deutlich höhere Steuern finanzierten. Denn – auch wenn das kaum jemand so sagt – Deutschland ist schon heute ein Hochsteuerland. So zahlen Kapitalgesellschaften über alle Steuerarten hinweg hierzulande mit die höchsten Abgaben im OECD-Kreis.

Und auch wenn derzeit das Gefühl vorherrscht, der Staat müsse und könne alles richten, muss unser Fokus auf privatwirtschaftlich finanzierten Investitionen liegen.

Natürlich sind auch mehr öffentliche Investitionen nötig, zum Beispiel im Bereich der Grundlagenforschung und auch der klassischen Infrastruktur, aber alle anderen Investitionen gehören in die Hände von Privaten, die auch die unternehmerischen Risiken tragen müssen.

Es gilt daher viel mehr als bisher, Private zu mehr Investitionen zu bewegen.

Die Vollendung der Kapitalmarktunion kann hier einen wichtigen Beitrag leisten: In den USA finanzieren sich die Unternehmen zu 60 Prozent am Kapitalmarkt, in der EU nur zu 20 Prozent. Wenn sich die Europäer hier annäherten, würde das gewaltige Summen für Investitionen freisetzen.

Und auch neue Formen von Public-private-Partnerships, bei denen der Staat in begrenztem Maße Finanzierungsrisiken übernimmt, können bei der Mobilisierung von privatem Kapital sehr hilfreich sein.

Am besten lässt sich dieser Gedanke mit den Corona-Hilfen beschreiben: Während der Corona-Krise stellte der Staat öffentlichen Förderbanken – wie der KfW in Deutschland oder der EIB auf europäischer Ebene – eine Garantie aus. Auf dieser Basis stellten die Förderbanken sicher, dass förderwürdige Projekte – trotz extrem hoher Risiken im Markt – weiter finanziert wurden. Indem sie die Kreditvergabe von Geschäftsbanken und auch anderen Finanziers (bei der EIB haben wir auch eng mit Venture Capitalists zusammengearbeitet) teilweise absicherten.

Dieser Ansatz lässt sich meiner Meinung nach bestens auch auf risikoreiche Investitionsvorhaben mit hohem gesamtgesellschaftlichem Mehrwert – insbesondere im Innovationsbereich – ausweiten, statt hier nur auf öffentliche Investitionen zu bauen. 

Der Vorteil dabei ist klar: Risk-sharing-Instrumente, wie sie im Fachjargon heißen, sind marktkonform, nutzten die ganze Bandbreite an Kreativität des Privatsektors und erfordern im Vergleich zu den mobilisierten Investitionen nur einen geringen Einsatz öffentlicher Mittel.

Meine Damen und Herren,

ich hoffe, ich habe Sie überzeugt, dass eine starke EU weit mehr kann, als Krisen bewältigen. Als echte Wertegemeinschaft, als vollendeter Binnenmarkt mit gemeinsamen Sozialstandards, als Kapitalmarkt- und Bankenunion kann sie auch in der Klimatransformation zum leuchtenden Vorbild werden.

Warum also sollten wir für den nächsten Integrationsschub warten, bis die Klimakrise noch drängender geworden ist, als es die Fluten und Waldbrände des letzten Sommers erahnen lassen?

Ja, Europa ist manchmal kompliziert, meine Damen und Herren,

und oft ist Europa auch schwierig.

Aber in unserer Vielfalt steckt auch Kreativpotential, an das wir ruhig glauben dürfen. Die Voraussetzungen dafür, dass uns die grüne Transformation gelingt, sind zum Beispiel gar nicht so schlecht: In der Umwelttechnik ist Europa nach wie vor weltweit führend.

Ich bin überzeugt: Wir brauchen Europa mehr denn je! Damit wir auch künftig in Frieden, Freiheit und Wohlstand leben können.

Lieber Herr Scholz,

ich freue mich auf die Diskussion.