Anna Fiscale beschäftigt bei Progetto Quid benachteiligte Menschen und macht Mode mit Stoffen aus Überproduktion

Von Chris Welsch

Vor sechs Jahren machte Anna Fiscale mit ihrer Geschäftsidee aus der Not eine Tugend.

In dieser Zeit steckte sie in einer schweren persönlichen Krise. Eigentlich wollte sie unabhängig und stark sein und hatte nach ihren Bestnoten in der Ausbildung eine internationale Karriere im Auge. Zugleich fühlte sie sich schwach und unentschlossen, unfähig, ohne die Billigung anderer auch nur einen Schritt zu tun. Eine von Missbrauch geprägte Beziehung verstärkte ihre Unsicherheit noch mehr.

Der Wendepunkt kam, so Fiscale, durch die Auseinandersetzung mit dem Begriff „Fragilität“, ihrer eigenen und der anderer. Was wäre, fragte sie sich, wenn sie ihre Schwäche, ihre Fragilität nicht als Mauer sehen würde, sondern als Tor zu etwas Neuem? Für sie und für andere, die schlecht behandelt, vom Pech verfolgt oder zu falschen Entscheidung gedrängt wurden.

So entstand Progetto Quid.

Mit dem wachsenden Erfolg ihrer Firma hatte Anna Fiscale immer öfter Gelegenheit, ihre Geschichte zu erzählen – unter anderem 2017 in einem Ted Talk zum Thema „Der Fragilitätsfaktor“.

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Die Verkäuferinnen Carmen Fusco (links) und Sara Zechinatto (rechts) im Progetto Quid-Geschäft im Zentrum Veronas

Doppelter Mehrwert

Fiscale zog zurück in ihre Heimatstadt Verona in Norditalien und begann an ihrer Geschäftsidee zu feilen: aus Schwäche sollte Stärke werden, bei ihr selbst und bei anderen Menschen. Sie erzählt, dass sie ihre Kleidung schon immer gerne mit Stickereien verzierte und von Mode fasziniert war. Später erfuhr sie, dass italienische Modehäuser und Textilhersteller Tausende Meter überschüssige Stoffe oft einfach wegwerfen, sobald die Entscheidungen für eine Saison gefallen sind. Diese Stoffe musste man doch retten können, fand sie und dachte dabei an Menschen, die Arbeit für einen Neuanfang in ihrem Leben brauchten.

„Die Firma heißt ‚Projekt Quid‘“, erklärt sie, „weil ‚quid‘ auf Lateinisch bedeutet, dass etwas Zusätzliches da ist. Das trifft bei uns gleich doppelt zu: Wir beschäftigen benachteiligte Menschen und wir machen Mode aus Stoffen, die sonst Abfall gewesen wären – eine zweite Chance in jeder Hinsicht. Unser Firmensymbol ist eine Wäscheklammer: Damit halten wir zusammen, was die Gesellschaft, die Umwelt und den Markt ausmacht.“

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Anna Fiscale, die Gründerin von Progetto Quid

Progetto Quid stellt Damenmode in limitierter Stückzahl bis zu 300 Teilen her – limitiert deshalb, weil jedes Kleidungsstück nur so lange angefertigt werden kann, bis der Stoff aufgebraucht ist. Quid hat fünf Boutiquen in Norditalien, auch eine in Venedig, und vertreibt seine Mode online und in über 100 Multi-Marken-Geschäften. Neben Kleidung werden auch Accessoires hergestellt: Portemonnaies, Einkaufstaschen, Arm- und Haarbänder, alles aus Stoffen, die sonst weggeworfen würden. Vor ein paar Jahren gewann Progetto Quid den Wettbewerb für Soziale Innovation. Damit zeichnet das EIB-Institut jedes Jahr europäische Unternehmen aus, die in erster Linie soziale, ethische oder ökologische Ziele verfolgen.

An einem betriebsamen Donnerstagmorgen im Fabrikgebäude von Progetto Quid: Im Produktionsraum erfüllt das Surren Dutzender von Nähmaschinen die Luft. Anna Fiscale erklärt, dass die Firma das Gebäude erst im August 2018 bezogen hat, der Platz für die Näherinnen und Näher und im Stofflager aber bereits knapp wird. Dabei sind jetzt schon zwölf Beschäftigte für Verwaltung, Entwurf und Musterherstellung anderweitig in der Nähe untergebracht.

Im eigenen Umfeld etwas bewegen

Die Firma ist von drei Beschäftigten 2013 auf heute 120 gewachsen, so Fiscale. Sie stellt rund 100 000 Bekleidungsstücke im Jahr her und verdient damit 2,8 Millionen Euro.

Im Produktionsraum schneidet Ijeoma Madueke lose Fäden von bedruckten Blusen, die gerade erst genäht wurden. Für sie und viele andere war Progetto Quid ein Segen, sagt sie.

„Ich fühle mich wohl hier, und die Firma hilft Menschen, denen es nicht so gut geht. Sie hat schon vielen geholfen, auch mir.“

Laut Fiscale haben rund 60 Prozent der Quid-Mitarbeiter mit irgendeiner Art von Benachteiligung zu kämpfen. Die Firma hat zwei Fabrikräume in einem Gefängnis in Verona. Sie wird einige der vor Kurzem entlassenen Häftlinge einstellen, die vorher schon ausgeholfen hatten. Eine Frau, erzählt Fiscale, kam aus dem Gefängnis in die Firma, um die Qualitätskontrolle und Verpackung zu beaufsichtigen.

Einige der weiblichen Beschäftigten waren Opfer von sexueller Ausbeutung. Andere sind auf dem Weg aus einer Drogen- oder Alkoholabhängigkeit. Wieder andere sind älter und wurden von italienischen Modefirmen entlassen. Mit ihrem reichen Erfahrungsschatz bilden sie nun den Nachwuchs aus.

Im Lager, einen Stock unter der Produktion, inventarisiert Marco Penazzi die vielen Stoffe. Kilometer von Textilien – von feinster italienischer Wolle für Anzüge bis zu grellbuntem Polyester für Bademode – liegen aufgerollt in bis zur Decke reichenden Regalen und warten darauf, eine Treppe höher zu den Designern geschickt zu werden. Penazzi ist aber mehr als nur ein Lagerverwalter: Auf der Suche nach Stoffspenden reist er durch ganz Italien.

Für den ausgebildeten Krankenpfleger, der auch in sozialen Projekten in den USA mitarbeitete, macht die Vielfalt in der Firma den großen Reiz aus.

„Das Tolle ist: Ganz gleich, woher wir kommen, wir sind alle Kollegen. Du wirst hier nicht auf deine Vergangenheit reduziert.“

„Wir ziehen alle an einem Strang“, meint er und kehrt zu seinen Stoffen zurück.

„Am Anfang war ich als Ehrenamtlicher hier“, erzählt er uns noch, „aber jetzt sind wir ein richtiges Modelabel und konkurrieren mit anderen Labels. Die Arbeit wird also nicht weniger.“

Etwas später in der eleganten Progetto Quid-Boutique in Veronas Altstadt: Verkäuferin Carmen Fusco dekoriert das Schaufenster. Wir fragen sie, ob die Kunden die Teile kaufen, weil ihnen die Geschichte dahinter gefällt oder die Mode selbst.

„Ich würde sagen, beides“, meint sie. „Ich war Kundin, bevor ich hier angefangen habe. Es war immer ein gutes Gefühl, hier einzukaufen, weil man etwas für die Gesellschaft tut. Aber die Teile mussten mir natürlich auch gefallen.“