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    Juan Gómez-Jurado

    IN KREATIVEM LICHT: GESCHICHTEN AUS OUARZAZATE
    Autorentexte für die Europäische Investitionsbank, gefördert durch die Nachbarschaftsinvestitionsfazilität der Europäischen Union


    Ein letzter Augenblick, ein letzter Stoß. Alles oder nichts.

    In meinem Traum geht der Mythos anders aus.

    In meinem Traum werden der Sohn einer jungen Sklavin und sein Vater Dädalus von König Minos auf der Insel Kreta gefangen genommen. Dädalus wird gezwungen, ein Labyrinth zu bauen, um Minotaurus darin einzusperren. Das Labyrinth ist eine Perversion von Dädalus' unerschöpflichem Talent. Unzählige Windungen, um eine schreckliche Wahrheit zu verbergen. Welcher Despot wäre noch sicher, wenn seine Sünden offenkundig würden?

    In meinen Traum wollen Dädalus und Ikarus der Tyrannei des Minos entkommen. Und so erschafft Dädalus seinen eigenen Traum. Klar und deutlich sehe ich Dädalus vor mir, der seinen Blick durch das vergitterte Fenster auf das nahe, aber unerreichbare Meer gerichtet hat. Er denkt nach, wie er dem unerbittlichen Schicksal entfliehen könnte. Traurig beobachtet er, wie durch das fehlende Licht die Haut seines Sohnes immer dünner und durchscheinender wird, wie sein Haar brüchig und seine Lungen träge werden, wie seine Muskeln in der Werkstatt verkümmern, weil er nicht im Sonnenlicht herumtollen und lachen kann.

    In meinem Traum betrachtet Dädalus einen Fixpunkt in der Ferne, als sich etwas zwischen seinen Blick und den ersehnten Strand schiebt. Ein Flattern im Wind, ein Schrei nach Freiheit, der an den Wänden des Gefängnisses widerhallt. Kurz und flüchtig, wie alle Ideen. Für alle sichtbar, wie alle Ideen. Aber keiner verstand es, sie zu nutzen, oder vielleicht fehlte ihnen der Mut. Wie bei allen Ideen.

    In meinem Traum sucht Dädalus nach verfügbarem Material, doch er findet nur Dinge, für die andere keine Verwendung haben: Trockene Zweige, Schnüre, Vogelfedern, das Wachs der Kerzen, die ihm in der Nacht Licht spenden, wenn er die immer komplizierteren Aufträge des Tyrannen erledigt.

    In meinem Traum ist Dädalus über seine Werkbank gebeugt. Er teilt, misst, verknotet, klebt. Er zieht und formt mit seinen Händen. Er testet, probt, experimentiert. Er scheitert und scheitert, immer wieder, bis sein Verstand zu seinen Fingerspitzen wandert.

    In meinem Traum gelingt es Dädalus, den sanften, unerklärlichen Schwung der Vogelflügel nachzuahmen. Die perfekte Unvollkommenheit der Natur, eingefangen in einem Gebilde aus Resten. Auf dem Altar von Anstrengung und Beharrlichkeit nimmt das Unmögliche Gestalt an.

    In meinem Traum testet Dädalus seine Flügel und stellt erstaunt fest, dass sie funktionieren.

    In meinem Traum verwendet Dädalus kostbare Zeit darauf, ein zweites Paar Flügel für seinen Sohn zu bauen, in dem Wissen, dass die grausamen Wächter des Königs sie jederzeit entdecken könnten. Zu jedem Zeitpunkt stellt sich Dädalus die Schritte auf der Treppe vor, die zerberstende Tür, die Lanzen, die sich in sein Fleisch bohren. Umso mehr strengt er sich bei dem zweiten Paar Flügel an, er macht sie stärker und größer, denn sie sollen das Kostbarste schützen, das es gibt: die Zukunft.

    In meinem Traum entkommen Dädalus und Ikarus der Zelle und gelangen auf die Spitze des Turms, in dem der König sie gefangen hält, und jetzt ist das Schaben der Lederstiefel auf den Treppenstufen nicht nur vorgestellt, sondern sehr real. Die bronzenen Klingen der Lanzen dürsten nach Blut, wutentbrannte Schreie hallen durch die Luft. Leder, Bronze und Lärm, das reichte, um zwei Leben zu beenden oder sie wieder in Sklaverei und Gefangenschaft zurückzuschicken.

    In meinem Traum zögert Dädalus am Rande der steinernen Zinnen; beim Blick auf den Abgrund überkommen ihn auf einmal Zweifel an seiner Kunst und Wissenschaft. Die Felsen inmitten des tosenden Meeres starren ihn an, unbarmherzig, herausfordernd. Spring, wenn du dich traust, scheinen sie zu sagen. Andere, die weit besser waren als du, haben ihre Natur herausgefordert, und die Krebse haben ihre Überreste von uns abgenagt.

    In meinem Traum gibt Ikarus Dädalus den Stoß. Ikarus, Sohn einer Sklavin, der nichts anderes als Gefangenschaft kennt und nicht einen Atemzug getan hat, der ihm gehört, sagt Es reicht. Die Soldaten berühren schon fast mit ihren schmierigen Fingern und Todesversprechen im leeren Blick die Federn. Ein letzter Augenblick, ein letzter Stoß. Alles oder nichts.

    In meinem Traum verschmelzen die Angstschreie von Vater und Sohn zu einem einzigen, während sie ins Verderben hinabgleiten. Die Zeit, die der Wind benötigt, um die Flügel zu blähen, ist der Moment zwischen Angst und Freude, zwischen Entsetzen und Staunen. Die Gesichter der Wächter verwandeln sich zu rasch entschwindenden Punkten, während die beiden mit ausgestreckten Armen nach oben steigen und in die Freiheit fliegen.

    In meinem Traum gibt es weder Stolz noch Vermessenheit. In meinem Traum fliegt Ikarus Richtung Sonne, aber er kommt ihr nicht zu nah, die Strahlen lassen das Wachs nicht schmelzen, und sein Vater muss seine Erfindung und sein Freiheitsstreben nicht bedauern.

    In meinem Traum ziehen die schwarzen, leeren Bilder wie in einem Wimpernschlag vorbei und verschwinden im Augenwinkel, in dem wir manchmal den Tod an unserer Seite gewahren.

    In meinem Traum kenne ich die Wahrheit. Ich weiß, dass die Tyrannen, die uns versklaven, die uns in von uns mühevoll errichteten Türmen anketten, real sind. Über Jahrzehnte, Jahrhunderte hinweg haben sie uns in Abhängigkeit gehalten. Und es ist weder verwegen noch vermessen, weder stolz noch unsinnig, es zu wagen, eine Zukunft zu entwerfen und vom Turm in eine neue Freiheit zu springen.

    In meinem Traum geht es darum, möglichst nah an die Sonne heranzufliegen. Und irgendwann öffnete ich die Augen auf einer freien Fläche in der Nähe von Ouarzazate inmitten leuchtender Flügel, und da wusste ich, dass ich nicht der einzige Träumer bin.

    (Übersetzung Sabine Giersberg)