Eine App aus Italien hilft bei chronischen Beckenschmerzen und bringt Betroffene zusammen

Vor wenigen Jahren entdeckten Gaia Salizzoni und Vittoria Brolis, zwei Freundinnen aus dem italienischen Trient, eine Gemeinsamkeit: chronische Beckenschmerzen. Das ist kein großer Zufall: Immerhin ist jede vierte Frau weltweit davon betroffen. Vor allem Frauen im gebärfähigen Alter, aber auch einige Männer, leiden an Schmerzen in der Hüftgegend unterhalb des Bauchnabels. Dauern sie länger als sechs Monate, werden sie als chronisch eingestuft.

Weil das ihren Alltag beeinträchtigt, leiden 73 Prozent der Betroffenen an Angststörungen und Depressionen. Für die körperlichen Symptome gibt es zwar Behandlungsmöglichkeiten und Medikamente, aber das seelische und psychische Wohlbefinden kommt zu kurz. Und kaum jemand redet darüber.

Gaia erinnert sich an ihr erstes Gespräch mit Vittoria: „Es war unbeschreiblich, denn bis dahin waren wir nur auf eine Wand des Schweigens gestoßen. Jetzt wussten wir: Wir sind nicht alleine. Das setzte neue Energie frei.“

Die beiden Frauen gründeten die Plattform Hale. Dort finden Menschen mit chronischen Beckenschmerzen Rat und tauschen sich aus.

Die in Italien gegründete Plattform wird mittlerweile von Berlin aus betrieben. Inspiriert wurde „Hale“ durch die englischen Verben „inhale“ und „exhale“, zu Deutsch: ein- und ausatmen. „Es geht darum, tief ein- und auszuatmen“, erklärt Gaia. „Wer zu uns kommt und sieht, was wir bieten, atmet erst mal tief durch und fühlt sich aufgehoben.“

Informationen über ein totgeschwiegenes Thema

Chronische Beckenschmerzen können durch eine oder durch mehrere Krankheiten mit überlappenden Symptomen verursacht werden, etwa Endometriose, Muskel-Skelett-Erkrankungen oder das Reizdarmsyndrom. Oft setzen einen die Schmerzen außer Gefecht. „Stellen Sie sich vor, Sie haben immer Schmerzen – beim Pinkeln, Sitzen, Laufen, Sex oder am Schreibtisch“, beschreibt es Gaia. „Es ist, als hätten Sie dauernd schlimme Kopfschmerzen, aber im Intimbereich.“

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Eine von vier Frauen weltweit leidet an chronischen Beckenschmerzen

Die Nutzerinnen und Nutzer des Hale-Programms füllen zunächst einen Fragebogen über ihre Symptome und Beschwerden aus. Gaia erklärt: „Anhand dieser Daten stellen wir ein persönliches Programm für das psychische Wohlbefinden zusammen, das sie jederzeit und überall nutzen können.“

Die App bietet täglichen Content inklusive angeleiteter Kurse zu Psycho- und Sexualtherapie. Auch eine Bibliothek mit Hintergrundmaterial gibt es.

Die Plattform besteht aus drei Komponenten: dem Programm selbst, der Community und einem Tracker, um Fortschritte zu messen. Die Gründerinnen arbeiten mit drei wissenschaftlichen Beraterinnen aus den Bereichen Psychotherapie, Sexualtherapie und Gynäkologie zusammen, die die Inhalte prüfen und strategische Richtlinien aufstellen.

Bisher hat Hale mehr als 10 000 Mitglieder, die sich auf Telegram und Instagram über ihre Erfahrungen austauschen und Tipps geben. Die Beta-Version des personalisierten Programms steht derzeit jeweils etwa 30 Personen pro Monat zur Verfügung.

Die App soll 2023 auf den Markt kommen und dann alle Inhalte vereinen. Allein in Europa könnte sie einmal von mehr als 50 Millionen Menschen genutzt werden, glauben die Gründerinnen.

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Eine von vier Frauen weltweit leidet an chronischen Beckenschmerzen

Dass so viele Menschen die App regelmäßig nutzen, beweist laut Gaia, wie wichtig das Angebot ist. „Wer mit diesen Schmerzen kämpft, ist oft schon mit dem Alltag überfordert und kann nicht auch noch an die Zukunft denken“, sagt sie. „Wir erleben, dass unsere Nutzerinnen anfangen, neue Pläne zu schmieden – Reisen, Karriereschritte oder etwas anderes, was ihnen bisher Angst gemacht hat.“

Eine Frau schrieb auf der Plattform: „Ich habe die Schmerzen und dann auch die Diagnose jahrelang ignoriert. Nur weil ich Angst vor dem Schmerz hatte und davor, dass es keine Lösung gibt.“

Jemand anders schrieb: „Ich habe gelernt, meine Ängste bewusster und rationaler wahrzunehmen und meine emotionalen Blockaden mit mehr Gelassenheit zu überwinden. Und vor allem habe ich nun einen neuen Blick auf Probleme. Ich höre mehr auf mich, ohne Schuldgefühle.“

Mangelnde Forschung und soziale Tabus

Hales größtes Problem ist, dass chronische Beckenschmerzen ein soziales Tabu sind. „Deshalb können wir mit Partnern, Kunden, Investoren oder sogar Institutionen nicht Klartext reden“, sagt Gaia. „Mangelnde Forschung und Transparenz sind bei diesem Thema ein echtes Problem.“

In der Medizin werden Frauen und Männer seit Langem ungleich behandelt. So werden etwa für frauenspezifische Gesundheitsprobleme weniger Ressourcen aufgewendet. Weil die Informationslage so dürftig ist, wollen die Gründerinnen von Hale später einmal ihre eigenen Erkenntnisse und Daten zu dem Thema beitragen.

2022 gehörte Hale zu den Finalisten des Wettbewerbs für Soziale Innovation. Damit zeichnet das EIB-Institut soziale Unternehmen aus, die vor Ort eine positive soziale oder ökologische Wirkung erzielen.