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    Tina Uebel

    IN KREATIVEM LICHT: GESCHICHTEN AUS OUARZAZATE
    Autorentexte für die Europäische Investitionsbank, gefördert durch die Nachbarschaftsinvestitionsfazilität der Europäischen Union


    Und da muß mir vielleicht doch, ganz kurz und ohne daß ich davon erzählen wollte, daß Herzchen schier brechen vor lauter Liebe zu meiner wundervollen, schrulligen, brillanten, verlorenen und verkommenen und ganz und gar poetischen Spezies.

    Inmitten der Wüste ein See. Kein kleiner palmengesäumter Oasentümpel, ein gewaltiger See, makellos blau. Lässig und selbstbewußt liegt er zwischen den kargen Hügel aus rotem Gestein, anthrazitfarbenem Gestein, und doch denkt man sich: Was macht der hier? Mitten in der Wüste? Geht es ihm gut? Hat er sich das auch gut überlegt?

    Hat er nicht. Wir haben uns das überlegt, wir Menschen. Er ist ein Stausee, der El-Mansour-Eddahbi-Stausee, fertiggestellt Anfang der 70er. Er speist Felder und Dattelpalmenhaine, ein Wasserkraftwerk und die Pumpstation von Noor, die wir unter uns liegen sehen, die wir besuchen werden, die das Wasser liefert – sorgfältigst aufbereitet und von jeder Verunreinigung geklärt – für Noors Dampfturbine. Wir werden große Fische im See entdecken und darüber witzeln, das seien mutmaßlich die impurities, die es zum Wohle der Turbine rauszufiltern gelte. Aber noch stecken wir nicht im Detail, noch stehen wir in der anschwellenden Hitze des frühen Morgens hier auf unserem Aussichtshügel, in der archaischen Ehrfurcht, die den Menschen im Angesicht der Wüste überfällt. Und in sprachloser Verblüffung über diesen surrealen See. Auch die Wüste schweigt, wie das nur Wüsten in dieser Drastik können. Man fragt sich, ob sie den See mißbilligt. An seinen Ufern jedenfalls wächst bemerkenswert fast gar nichts. Bevor wir uns abwenden, um zu unseren drei Geländewagen zurückzu­gehen, zeigt Liz auf einen Cairn, ein Steinmännchen, das jemand auf der Hügelkuppe errichtet hat, inmitten all dieses schier endlosen Tumults aus Stein, Staub und Geröll. Ich mag das, sagt sie, wie Menschen das überall in der Wildnis auf Bergen und Hügeln tun. Shaping the Chaos.

    Wir, das sind sechs Schriftsteller aus sechs europäischen Ländern, groß­zügig eingeladen, zwei Tage das Solarkraftwerk Noor in Ouarzazate zu besichtigen und darüber zu schreiben, die Form ist egal, ich bin nicht die einzige, die spontan an ein Haiku dachte. Salma und Yousra von MASEN, der Moroccan Agency for Solar Energy, begöschern uns.

    Die Betreuung meines sehnsüchtigen Seelchens allerdings hat ungeplant Mustapha, unser Fahrer übernommen. Auke und Álvaro mögen zufällig in seinem Wagen gelandet sein, ich hingegen habe spontan nach Coolness der Fahrer entschieden und beglückwünsche mich die nächsten 48 Stunden zu meiner Intuition: Während unserer Fahrten durch die Wüste spielt Musta­pha von seinem USB-Stick die wunderbarste, sehnsüchtigste Wüstenmusik, die nur vorstellbar ist: Blues, elektrified Blues, zertifiziert natürlich der Sound­track zu wüstenlastigen Roadtrips, in Fusion mit traditioneller Tuareg-Musik. Besser kann man die Wüste, diese Wüste, nicht in Musik fassen. Und in irgendwas müssen wir die Wüste ja fassen, um uns in dieser beglückenden Leere nicht aufzulösen, und Worte sind zu klein. Schon komisch, sagte Liz vorhin und zeigte über Steine und Geröll, teils als Ebene zum Horizont hinströmend, den Gipfeln des Atlas entgegen, teils zu Hügeln aufgeworfen wie die Wogen einer erstarrten See, daß das eine Wüste ist, man denkt ja immer an Sand und Dünen. Nein, sagte ich altklug, Wüsten definieren sich rein nach Niederschlagsmengen. Große Teile der Antarktis sind eine Wüste. Ich weiß das, denn meine Sehnsucht treibt mich seit Dekaden in Wüsten und Polargebiete. Meine Sehnsucht schert sich nicht um Niederschlagsmengen, meine Sehnsucht ist an Leere interessiert. Der möglichst vollkommenen Abwesenheit von Allem. Ich kann nicht sagen, warum. Vielleicht wächst in der Leere selbst einem atheistischen Aas wie mir eine temporäre Seele. Wie bei Musik, wenn sie gut ist.

    Zu Mustaphas ultracooler Tuaregblues-Fusion geschmeiden wir im Tief­flug über die Wüste zum Kraftwerk hin, und es muß vielleicht erwähnt werden, daß wir gestern Nacht, korrekter heute Morgen, erst um halb zwei in Ouarzazate gelandet sind, nach zwei im Hotel waren, wohl kaum einer vor drei, halbvier Schlaf gefunden hat, und um acht ging’s bereits los – der Trip begann für Salma und Yousra mit einer kleinen Meuterei unsererseits, eigentlich hätten wir noch eine Stunde früher aufbrechen sollen. Über­nächtigung, Unterkoffeinierung und die rasch gen 30° kletternde Hitze verweben sich zwischen meinen Synapsen zu einem angenehm meditativ-psychedelischen Effekt. Vor dem Eingang zu Noor, wo wir zur Paßkon­trolle halten, pflanzen zwei Menschen in den brutalen Boden kleine, schüchterne Sukkulenten. In Reih und Glied. Irre, denke ich, wie kommt man auf einen solchen Gedanken. Jeder einzelne grimme, graue, kochendheiße Quadratzentimeter Wüste brüllt In mir wird nichts wachsen. Wir aber, wir Menschen, verlegen dünne schwarze Plastikschläuche, die jedes Pflänzchen direkt an der Wurzel bewässern. Shaping the Chaos. Die Wagen fahren an, und während ich mich noch frage, ob ich mir die Pflänzchen nur eingebildet habe, breitet sich vor mir eine Szenerie aus, die ich garantiert halluziniere.

    Bis zum Horizont erstrecken sich auf mathematisch planer Ebene schier unendliche Reihen von etwas, für das ich weder Analogie noch Worte finde, das nächste Mal sollten sie vielleicht Musiker schicken. Reihen um Reihen von enormen, gleißenden, rasierklingenscharfen, unirdisch klaren Spiegeln, rechteckig, leicht konkav, aufgereiht in der Präzision nordkoreanischer Militärparaden. Das makellose Blau des Himmels schwappt in ihrer Wölbung mit leicht veredeltem Silberglanz. Das Adjektiv futuristisch geht nach Hause und schämt sich, seine bisherigen Einsätze an arg Profanes verschwendet zu haben. Ich frage mich, ob mir die Sonne bekommt und/oder ob man mir heute früh was in den Kaffee getan hat. Da wir hier als Schriftsteller geschickt sind, ob unserer Eloquenz und unseres über­ragenden Umgangs mit dem Wort, ich habe da eines, das trifft es ganz gut: Wow.

    Das Adjektiv futuristisch geht nach Hause und schämt sich, seine bisherigen Einsätze an arg Profanes verschwendet zu haben.

    Ich reise viel, nahezu manisch, aber ich recherchiere meine Reiseziele nicht tot im Vorfeld, und nie gucke ich mir zuvor Bilder an im Netz. Wo wäre der Punkt des Reisens, der Mühen, der Zeit und Hingabe, die man investiert oder zumindest investieren sollte, beraubte man sich der Erfah­rung des Staunens, der Verblüffung, der Überraschung, der Überwältigung. Des Wows.

    Unterbrochen werden wir beim Staunen von Tarik, hiesiger Planning-and-Methods-Manager, der uns zunächst im Infocontainer eine Sicherheits­instruktion gibt – wir tragen übrigens Helme, neongelbe Westen und solides Leihschuhwerk – über chemische, elektromagnetische, explosive und Dampf/Hitze-Gefahren, die sich zusammenfassen läßt in: Nichts anfassen, auf Anweisungen hören, keine Flüssigkeiten trinken, die über 400° heiß sind. Dann treten wir vor die Tür, und Tarik beginnt, uns Noor zu erklären.

    Ich reise in Wüsten und Polargebiete, ich habe abgelegene Meere besegelt, ich durchwandere Steppen, lungere in Dschungeln und besteige Berge und muß gestehen, daß ich vollendetes Glück vorwiegend in großer Ferne zur Zivilisation empfinde, vielleicht, weil mir dort die Illusion einer Seele wächst, vielleicht, weil ich glaube, daß wir, unsere Physis, nach wie vor schlicht prädatorische Säugetiere sind, Jäger, unser Neurotransmitter- und Hormonhaushalt evolutionär angewiesen auf den Kampf, die Natur, die physische Anstrengung. Aber ich gehöre wahrlich nicht zu den zivilisations­satten Romantikern, die in wohltemperiert-gezähmtem Environment über die böse Zivilisation, die schlimme Technik, die gefährliche Wissenschaft salbadern. Das Wort dafür lautet: Bullshit. Die Natur ist nicht sanft und lieblich, die Natur ist unser Feind, auf jedem majestätischen Alpengipfel will uns jederzeit ein Schneesturm den Garaus machen, selbst auf der Ostsee kentern Boote im Sturm, und auf der bezaubernden Blumenwiese werden wir von einer Zecke gebissen und sterben an Borreliose. Und falls die Zecke danebenbeißt, beschließt halt unser eigener Blinddarm spontan, uns einfach mal umzubringen. Bisweilen werde ich in Interviews gefragt, ob ich auf meine Reisen einen Talisman mitnähme, ich antworte stets, yep, ein gutes Messer und ein Breitbandantibiotikum.

    Ich bin mir nicht immer sicher, ob ich den Menschen liebe, aber ich bin mir sicher, daß ich Wissenschaft und Technik liebe. Zu den Höhepunkten meines Lebens gehört die Hochtour auf meinen ersten schwierigen Viertausender ebenso wie mein Besuch bei CERN. Ich bin Quanten­physikgroupie seit ich Teenager bin. Ich fülle in den kommenden Stunden ein Notizbuch mit technischen Details über Noor und werde daheim jeden, dessen ich habhaft werde, damit zutexten; in diesem Rahmen aber werde ich mich beschränken, bin ich doch nicht als Journalist, sondern als Schrift­steller gecastet; habe ich mich doch nie zuvor mit der Materie beschäftigt und können es kundige Menschen wie Tarik soviel besser erklären.

    Tarik erklärt wie ein Gott. Würde ich an einen Gott glauben, ich fände es nicht unsympathisch, trüge er einen Helm, eine neongelbe Warnweste und vernünftige Schuhe. Es ist ein Privileg, mit Tarik sehen zu lernen, wovon er redet. Noor ist ein Solarthermie-Kraftwerk, ich bin, im Zuge der Segelei und meiner Expeditionsunternehmungen, bislang nur mit Photovoltaik vertraut, wie’s in den letzten Jahren wohl viele sind, auf deren Dächern neuerdings Solarzellen wachsen.

    Noor I bis III – Noor IV wird photovoltaisch – nutzen schlicht Hitze. Die endlosen Reihen der Spiegel bündeln ihren Fokus in einer silbrigen Leitung, durch die eine Flüssigkeit mit dem poetischen Namen HTF, Heat Transfer Fluid, fließt und im Brennpunkt der Spiegel auf 400° erhitzt wird – das ist das Zeug, mit dem man, wenn’s irgendwo versehentlich austritt, nicht plantschen sollte. Die Ebene ist übrigens tatsächlich so irreal exakt planiert, wie sie aussieht, um die präzise Spiegelfokusausrichtung zu garan­tieren. Das HTF gibt in Wärmetauschern die Wärmeenergie einerseits an das Wasser aus unserem See ab, mit dem die Dampfturbine betrieben wird, andererseits an eine Flüssigkeit aus geschmolzenem Salz, das die Wärme speichert und so in einem gigantischen Tank quasi als Batterie dient; so weit, so fahrlässig verkürzt, fertig ist die Laube.

    Der Eindruck, zwischen dem Gedärm aus Myriaden von Rohren, gewaltigen wie filigranen, den wulstigen Wärmetauschern in Reihenhaus­größe, dem sinistren Klotz des Turbinengehäuses zu lustwandeln, während uns die zwei Tanks für das geschmolzene Salz – der eine für’s kühle, der andere für’s aufgeheizte – überragen, ist deutlich mehr Wow. Schöner noch ist nur Tariks Enthusiasmus für sein Kraftwerk. Während wir im Schatten der Salztanks schlendern, erzählt er, er sei erst seit 2014 bei MASEN, vorher sei er in der Öl- und Gasindustrie gewesen; oh, sagt Liz, you came from the dark side, und ich hoffe, sie meint damit dieselbe Star Wars-Assoziation, die ich seit dem ersten Blick auf Noor habe. Nicht nur er, sagt Tarik, auch diverse seiner Kollegen hätten damals das Gefühl gehabt, the boat is sinking. Er meint damit dezidiert nicht nur die ökologische, sondern auch die ökonomische Seite. Wieviel Hoffnung scheint darin zu liegen, wenn sich Ökologie und Ökonomie an den Händen fassen und springen. Tariks Hingabe zur fantastischen Technik wird nur noch übertroffen von seiner Euphorie, wenn er davon erzählt, wieviel des Energiebedarfs Noor I schon heute decken kann, wie Marokko darauf abziehlt, weltweiter Vorreiter bei erneuerbaren Energien zu werden, wieviel Noor II bis IV, derzeit im Bau, liefern werden, wie 52% des marokkanischen Energie­bedarfs bis 2030 mit Solar-, Wind-, Wasserenergie gedeckt werden soll. Später, beim Besuch der Baustelle der kommenden Noors, wird Deon aus Südafrika in die Lobpreisungen einfallen, Africa is still a dark continent, wird er sagen, von den Chancen schwärmen, und irgendwie haben sie ja recht: Relativ viel Wüste steht leer, da läßt sich noch was machen.

    Wieviel Hoffnung scheint darin zu liegen, wenn sich Ökologie und Ökonomie an den Händen fassen und springen.

    Ich habe mir die Zahlen notiert, behalten aber habe ich Zwischentöne. Zweimal sagte Tarik während seiner Berechnungen, er rede vom Bedarf eines marokkanischen Endverbrauchers, nicht eines westlichen. Ob die 52%-bis-2030-Rechnung von derzeitiger marokkanischer Genügsamkeit ausgeht oder man mit Energiegier in westlichem Ausmaße rechnet; und mit welchem Wachstum der Industrie. Ob Tarik und Deon die Geburtenrate Marokkos – eine der niedrigsten Afrikas – oder die Afrikas – mit 4,7 Kindern pro Frau horrend – einkalkulieren. Ob sie diese Geburtenraten mit dem aus den Youth Bulges destillierten und in letzter Zeit in den Medien ohne Anführungszeichen so genannten „Kriegsindex“ abgleichen, der die Zahl alter Männer in Relation zur Anzahl der jungen Männer setzt, die ihren Platz einnehmen wollen. Inwieweit ein Friedensindex bedeutete, daß lauter gemäßigt mittelalte kinderarme Menschen ihr friedliches Leben in erster Linie mit mehr und mehr stromschluckenden Annehmlichkeiten füllen. Daß wir derzeit 7,5 Milliarden sind, und im Jahre 2030 8,5. Daß es bei allem Wüstenleerstand niemals genug Wüste, genug Sonne, genug fuckin Planet für uns sein wird. All das habe ich nicht thematisiert. Wir hatten so einen schönen Groove miteinander, soviel Hoffnung, soviel Euphorie über die gottgleiche Technik, die sich in Brillianz und Schönheit über die Wüste legt, akkurat in Reihen gepflanzt wie die struppigen Sukkulenten vor dem Tor, vielleicht waren es gar keine Sukkulenten, sondern Palmsprößlinge. Ich habe seither darüber nachgedacht, Tarik diese Fragen per Mail zu stellen, ich habe seine Mailadresse notiert, aber es bislang nicht getan. Ich würde mir irgendwie als Verräter an meiner hoffnungsvollen Spezies vorkommen.

    Nicht immer bin ich mir sicher, ob ich mit meiner Spezies übermäßig solidarisch bin. Unser Mantra, wir zerstörten den Planeten, ist natürlich vollendeter Quatsch, ich erinnere eine Karikatur meiner Achtzigerjahre-Kindheit: Die Erde sagt zu einem anderen Planeten, mir geht’s nicht so, ich hab Mensch; der andere sagt, ach, das geht vorüber. Ein Anstieg der Temperatur um ein paar Grad, ein Anstieg des Meeresspiegels um einige Meter, das Werden und Vergehen von ein paar tausend Arten, da zuckt doch so ein Planet, der Pangäa hat auseinanderdriften sehen und sich 170 Millionen Jahre milde über die Dinosaurier amüsierte, müde mit den Schultern.

    Ich weiß nicht, ob es an mir liegt, daran, daß ich keine Seele habe, oder daran, daß ich zuviel gereist bin, wie ich müde mit den Schultern zucke angesichts der selbstverliebten deutschen Rituale des Öko-Schamanismus. Neuerdings verbieten wir Plastiktüten und glauben, damit dem Pazifischen Müllstrudel auf die Beine zu helfen. Ich habe den Pazifischen Müllstrudel gesehen, bin auf einem Boot mit weniger als eineinhalb Meter Freibord an seinen Rändern entlanggesegelt. Ich habe Landschaften gesehen, in Afrika und Südamerika, die mit feinen halbtransparenten Plastiktüten bedeckt waren bis zum Horizont wie mit einer dünnen Decke bunten Neuschnees. Ich kann zudem denken und weiß, die gemeine deutsche Plastiktüte wird es nimmermehr in den Pazifischen Müllstrudel schaffen: Zu hohe Transport­kosten. Ich weiß, wie sich Stromverbrauch und CO2-Ausstoß des Privatmenschen zu dem der Industrie verhalten und wieviel vom sorgsam getrennten deutschen Müll schlußendlich gemeinsam verbrannt wird. Wie die damals verordneten Energiesparlampen ein unterschätztes Sondermüll­problem darstellten. Wie das mühsam durch geschwächte Duschköpfe gesparte Wasser dann schwallweise durch die Kanalisation geflutet werden muß, weil die deutsche Kanalisation auf eine gewisse Wassermenge angewiesen ist, um nicht zu verrotten, und Deutschland nun mal wahrlich kein Wasserproblem hat, die täglich regendurchnäßte Hamburgerin kann es klagend bestätigen, und sich Wasser halt nicht in die Sahara exportieren läßt.

    Schamanische Handlungen, denke ich, wenn ich über meinen Stamm nachdenke, Gebete zu einem Ersatzgott, und weiß nicht, ob ich lachen soll oder meine Spezies vielleicht gerade deshalb liebhaben.

    Über Rassismus werden wir abends, beim Dinner am kerzenbeleuchteten, wüstennachtkalten Hotelpool reden; Liz sagte mir zuvor, ich war auf dem Weg in den Pool, sie habe schwimmen wollen, sei aber bei Oberschenkel­wasserstand umgekehrt, wenn ich aber schwimme, täte sie es auch. Ich tauchte unter, fuck war das kalt, aber nach ein paar Bahnen ging’s und war herrlich, nach ein paar weiteren Bahnen gesellte sich Liz dazu, wir schwammen in der Abenddämmerung durchs schneidend kalte Wasser miteinander und redeten dabei über’s Schreiben. Warum ich schreibe, wenn ich zumeist nicht an meine Spezies glaube, die doch mein Adressat ist, diese Frage stelle ich mir nicht. Liz stellt beim Abendessen – die Speisekarten sind LED-selbstleuchtend, potztausend – die Frage nach Rassismus, ich sage, nach meiner Erfahrung seien alle Menschen Rassisten: Die Weißen gegen die Schwarzen, die Schwarzen gegen die Weißen, die Russen gegen die Kaukasier, die Araber, im Sklavenhandel ja traditionell nicht weniger umtriebig als die Weißen, gegen die Schwarzen, die hispanischen Südamerikaner gegen die indigenen, die Norweger gegen die Saami, die Chinesen und Japaner sowieso, und das Rassistischste, was ich je persönlich gesehen hätte, sei eine Bantu-Familie in Kamerun gewesen, die sich Pygmäen als Nutztiere hielt. Liz guckt ehrlich bestürzt und fragt mich, welche Chancen ich dann überhaupt für die Menschheit sähe. Ich sage ehrlich, daß ich, die ich keine Kinder habe und auch nie welche wollte, mir nicht sicher sei, ob ich mich der Menschheit überhaupt so übermäßig solidarisch fühle. Vielleicht, sagt Liz, ist das etwas, was uns writer ausmache: Daß wir uns niemals zur Gänze zugehörig fühlten.

    Ich habe einen Freund, Andrea, wir haben uns vor zwei Jahren im Zuge einer Antarktisexpedition kennengelernt, er war unser Fotograf und derjenige, der mir das vielleicht Weiseste über das Leben sagte: Es ist mir letztlich scheißegal, sagte er, wohin ich gehe, wichtig ist, mit wem ich das tue.

    Alles an dieser Expedition war größer, besser und vermessener, als alles, was ich je zuvor tat, aber das Beste waren die Leute. Wir, unser Team. Kann ich Menschen derart lieben, wie ich das kann, aber zu unserer Spezies Distanz halten?

    Andrea hat eine alte Schweizer Dorfscheune zu seinem Haus umgebaut, er versorgt es durch eine Solaranlage, die er mir zeigte und erklärte. Jetzt hat er sich einen Tesla gekauft, den er sich eigentlich nicht leisten kann. Warum, habe ich ihn neulich gefragt, Andrea wich ein bißchen in Schweizer Wortkargheit aus und sagte letztlich doch, daß es ihm um die Weltrettung ginge.

    Ließe sich die Welt retten, gäbe es mehr Leute wie Liz und Andrea und weniger wie mich? Liz hat Kinder, Andrea nicht, daran kann es nicht liegen. Was ist mit all den Leuten im Kongo, 77 Millionen, die andere Probleme haben als Recycling, ich war dort, ich kann es bezeugen. Was mit den 180 Millionen Nigerianern. Den 34 Millionen Marokkanern. Der Milliarde Afrikaner, die 2050 zwei Milliarden sein werden, der guten Milliarde Inder, der fast eineinhalb Milliarden Chinesen. Werden 7,5 Milliarden Sparwasserduschköpfe uns retten?

    Wenn man Zeit mitbringt, sagt Tarik, kann man zusehen, wie sich all diese Spiegel langsam mit der Sonne mitbewegen.

    Wenn man Zeit mitbringt, sagt Tarik, kann man zusehen, wie sich all diese Spiegel langsam mit der Sonne mitbewegen.

    Wir machen Mittagspause im Noor-Hauptgebäude, wo es alles gibt, ein Auditorium, einen künftigen Ausstellungsraum, lange Flure mit Büros, die nur über Fingerabdruckscanner sich öffnen, alles eigentlich, außer Kaffee. Das ist von allen faszinierenden Dingen das Unglaublichste, sage ich, während ich matt in meine Lunchbox starre. Hundertfuffzig MASEN-Leute arbeiten hier, laut Tarik, arbeiten – wie machen die das, arbeiten, ohne Kaffee. Ein Mysterium.

    Nach dem Lunch fahren wir zu Noor II und III. Zunächst die Spiegel­reihen, aseptisch und erhaben inmitten von Baustellenentropie; als ginge sie das alles nichts an, träumen sie in Paaren einander zugeneigt, spiegeln in iterierendem Zwiegespräch nichts als einander, und einander, und einander. Eine Außenreihe sieht zu der Piste, die wir befahren, Himmel und Erde sind in den Spiegeln vertauscht, wir fahren einen halben Kilometer entlang eines Streifens Spiegelachsenwelt, in der uns drei psychedelisch langge­dehnte Geländewagen begleiten. Links von uns prosaische Rohre, an ihren Verbindungsstücken mit vielen kreideweißen und höchst menschlichen Anweisungen bekritzelt.

    Kann man eine Spezies nicht lieben, die eine solch sture, gloriose, erhabene Futuristik inmitten einer Wüste aufstellt, und gegenüber der Holperpiste auf schröddlige Rohre mit weißem Edding etwas notiert, was wahr­scheinlich in etwa heißt Rohrstück A11 mit A15 verbinden und dabei nicht von 400° heißen Flüssigkeiten trinken?

    Dann Noor III. Eigentlich alle, sagt Salma, sagen Star Wars. Ich möchte das bestätigen und hinzufügen: WOW, in Versalien. Zunächst fahren wir durch Flächen, die bewachsen sind von Säulen, die aus der Wüste ragen wie ein niedergebrannter Wald. Dann, einige hundert Meter weiter, sind den Stümpfen Kronen gewachsen, quadratische Kronen, fast tennisplatzgroß. Tausende dieser technologischen Bäume reihen sich in konzentrischen Kreisen, blickt man die Reihen entlang, scheinen sie sich erst in weiter Ferne zu krümmen. Ihr Name ist so schön wie ihre Erscheinung: Heliostat.

    Es gab Zeiten, da hielten wir die Sonne für einen Gott. Wir nannten ihn Ra, Viracocha, bei Dutzenden anderer Namen oder auch Helios. Es gab Zeiten, da wir das Firmament für von Atlas getragen hielten, später dann für eine über die Erde gestülpte Schutzglocke, und die Sterne für Gucklöcher, von den Engeln ins Firmament gepiekst, um über uns zu wachen.

    Ich habe vor dieser Reise Paul Bowles wiedergelesen, den Himmel über der Wüste, der im Original The Sheltering Sky heißt. Der schützende Himmel, der sich über die Wüste legt, ist bei Bowles das Bollwerk, daß die dahinterliegende brüllende Leere davon abhält, uns zu verschlingen. Die Bowles-Protagonisten gehen in die Wüste, um zugrunde zu gehen.

    Die Heliostaten, Individuen und doch zwangsweise dem Herdentrieb folgend, wie wir, richten sich alle einzeln und autark gesteuert nach der Sonne aus, jeder einzelne der 7.400 wird die Sonne, die wir Helios nennen könnten oder Ra oder einen durchschnittlich großen Stern im äußeren Drittel der Milchstraße, auf einen Turm im Zentrum ihrer konzentrischen Kreise reflektieren, einen Turm, 247 Meter hoch, an dem man dynamisch baut und der dereinst, zumindest kurzfristig, das höchste Bauwerk Afrikas sein wird und so hell gleißen wie eine kleine selbstgemachte Sonne. Wir werden ein Gruppenfoto, das einzige dieser Reise, hier machen, wir, in Helmen, Westen und geliehenen Schuhen, vor dem wachsenden Turm, flankiert von Heliostaten. Die Sonne wird sich aufblähen zu einem Roten Riesen und danach schrumpfen zu einem Weißen Zwerg. Wie lange gedenken wir zu überleben, bis dahin, oder wollen wir bloß aus sportlichem Ehrgeiz die Saurier toppen und es auf 170 Millionen plus Eins bringen?

    Meine idealistischeren Reisegenossen scheinen dem Menschen auch nicht gänzlich zu trauen, sie stellen viele Fragen nach der Sicherheit Noors bezüglich terroristischer Anschläge.

    Ich denke, ochgottchen, wen scherte ein Anschlag auf eine höchst theoretische Sciencefiction-Hoffnungsanlage wie diese, bring zwei Dutzend Touristen an einem Strand oder auf dem Dschemaa el Fna um, und aber Hallo, und das weiß ich als Laie genauso wie jeder halbwegs aufgeweckte Terrorist.

    Abends, sagt Tarik, als wir zum Abschied auf dem Aussichtsturm des Besucherzentrums stehen, ist es wunderschön, ich werde nie müde, dem zuzusehen: Wenn sich mit dem Sonnenuntergang alle Spiegel simultan in ihre Ausgangsposition zurückdrehen. Ich wünschte, ihr könntet im Frühling hier sein, auf dem Atlas liegt dann noch Schnee, und die Spiegel sind frühmorgens und gen Abend erfüllt vom Licht der tiefstehenden Sonne und den glühenden, schneebedeckten Gipfeln.

    Und da muß mir vielleicht doch, ganz kurz und ohne daß ich davon erzählen wollte, daß Herzchen schier brechen vor lauter Liebe zu meiner wundervollen, schrulligen, brillanten, verlorenen und verkommenen und ganz und gar poetischen Spezies.

    Auf dem Noor-Modell, das unter Glas im Besucherzentrum steht und das von uns allen ausgiebig fotografiert ward, denn das ganze ist so gigantisch, man kann es nur anhand eines Modells nicht begreifen, liegt ganz am linksunteren Rand, inmitten des rotgrauen Gipses, der die Leere der Wüste darstellt, ein Dörfchen, keine Modellstraße führt dorthin, aber ein Schildchen steht dran: Tiflit. Ich will zu dem Dorf, sagte im Laufe des Nachmittages Luigi; ich auch, sagte ich, und wir werden erst später feststellen, daß wir von verschiedenen Dörfern reden, er spricht von Tassel­mante, ganz unten mittig im Modell, angrenzend an Noor, eine Straße führt hindurch. Tag Zwei hat ein höchst touristisches Umland­programm für uns auf dem Zettel, und auch Tag Zwei beginnt mit einer Kleinst­meuterei, angezettelt von Luigi, unterstützt von mir: Bevor wir die touristische Parallelwelt besehen, möchten wir einen Blick auf die richtige Welt werfen. Salma arrangiert das noch am Vorabend. Luigi und ich unterhalten uns über Parallelwelten, vielleicht, sage ich, hätte auch das meine Story sein können, die Parallelwelten, die wir uns bauen, durch die wir uns bewegen. Die sich möglicherweise niemals berühren. Wir sind eine seltsame, verstiegene Spezies, deren Welten sich in ihren Köpfen formen. Wir müssen dieses Dorf sehen, sagt Luigi, ich kenne Aït-Ben-Haddou, ist schön, aber seit langem eine tourist trap. Wir müssen sehen, wie dieses Dorf, dieses echte Dorf, aussieht, das dort direkt am Perimeter von Noor liegt. Agreed, sage ich, aber mein Dorf, Tiflit, wäre noch schöner, kein Auge hat es jemals erblickt, kein Weißer hat es jemals betreten. Wir lachen und scherzen, und ich habe daheim einen ganz unironischen Regalmeter mit Büchern der Entdecker des Heroic Age der Polarfahrt, den Männern, die damals aufbrachen für mehrere Jahre zu einem unkartierten Kontinent, der Antarktis, die Wüste der vollkommensten Abwesenheit, noch nicht mal mehr Farben oder Geruch gibt es dort. Es ist die vollendetste Inkarnation von Sehnsucht, die ich kenne. Die Männer gingen dorthin und nicht wenige zugrunde, die, die überlebten, gingen wieder dorthin und wieder. Mallory, gefragt, warum er den Everest zu besteigen versuche, sagte: Weil er da ist.

    Manchmal macht mich die Hingabe zu meiner Spezies schwindelig. Wie nur kann die Evolution etwas so Schönes und Sinnloses wie uns erschaffen haben. Wie können wir sterblichen Säugetiere, mit Bewußtsein gestraft, zu diesen Dingen fähig sein. Unser Leben, unser einziges, auf’s Spiel setzen für einen Gipfel, einen Pol, eine Idee, eine sinnlose Leidenschaft, das Innere unkartierter, tödlicher Länder. Men go out into the void spaces of the world for various reasons. Some are actuated simply by the love of adventure, some have the keen thirst for scientific knowledge, and others are drawn by the lure of „little voices“, the mysterious fascination of the unknown. So mein Lieblingszitat von Sir Ernest Shackleton, meinem Lieblingspolarforscher. Shackleton hat in der Antarktis, wenn es ums Überleben ging, brilliert. Im sogenannten wirklichen Leben taugte er nichts. Ich habe die little voices mein Leben lang gehört. Nur ob ich zu irgendwas tauge, das ist nach wie vor ungeklärt.

    Tasselmante taugt. Soviel ist klar; real, sagt Luigi. Ich war heute früh wach, zum Sonnenaufgang in den eisigen Pool gesprungen, sondersamerweise zwitschern in einem Blumenbaum daneben jeweils zur Dämmerung hunderttausend hysterische Vögel, danach hatte ich hinreichend Kaffee, nur den psychedelischen Schwebezustand werde ich nicht los. Vielleicht liegt es an Mustaphas Musik – er trägt übrigens seit heute Morgen einen saucoolen Berberturban. Vielleicht liegt es an Tasselmante. An der Straße stehen zur Linken zwei, drei recht moderne Bungalows, an einem steht Association Tasselmante Pour le developpment, aus einem anderen dringen Kinder­stimmen, nur Menschen sieht man nicht. Nirgendwo. Zur Rechten ein Gewirr aus müden Lehmgebäuden, zerfließenden Lehmtürmen, der schmelzenden Erinnerung an Bauten und Räume und Grandezza, die nur noch von Tauben und Hitze bewohnt wird. Verliert man sich darin und mäandert durch die archaischen Strukturen, stößt man auf einen Kanal, an den sich überraschendes Grün drängt, stößt man auf einen alten Mann und seine verschleierte Frau, die sich umgehend hinter die nächste Mauerecke zurückzieht. Ich stoße zudem irgendwo auf Auke und vermute, irgendwo anders macht sich Salma gerade Sorgen, ob sie uns alle jemals wiederfindet. Später werde ich ihr sagen, aus dem Fundus meiner tiefen Heroic-Age-Polarfahrtweisheit, sie müsse sich keine Sorgen machen, auf Expeditionen wie dieser kämen nicht alle durch, zehn bis zwanzig Prozent Verlust seien akzeptabel, und wir werden daraus einen Running Gag entwickeln.

    Vieles kann ich begreifen an unserer Spezies, kann ich erklären aus unserer evolutionären Herkunft, unserer genetischen Disposition, unserer Neuro­chemie. Ich bin mir bewußt, wie mein Empfinden von jubilierendem Glück zusammenhängt mit all diesen geilen Hormonen und Neurotransmittern, die mein Körper ausschüttet, wenn ich ihn in Bredouille bringe: Adrenalin, Noradrenalin, Serotonin, all das, was unsereins Seele nennt. Was ich nicht begreife, ist Humor. Welchen evolutionären Zweck erfüllt Humor? Es gibt für unsere Fähigkeit zu Humor eigentlich nur eine einzige Erklärung: Einen Gott, der uns boshafterweise sowohl mit Sterblichkeit als auch mit Bewußtsein ausgestattet hat, und sich dann doch noch in letzter Minute erbarmte und uns eine einzige Waffe gegen diese Zumutung in die Hand gab: Humor.

    Von Tasselmante fahren wir lange durch sehr viel Wüste, heiße Luft fegt durchs Wageninnere, inzwischen ist auch Auke berberisiert und trägt einen Turban, vermutlich von Mustapha kundig gewickelt, der Wind mischt sich mit der Musik, und das ist natürlich die zweite Waffe, mit der uns der Gott, an den ich nicht glaube, ausstattete: Musik.

    Aït-Ben-Haddou, ein Ksar, eine befestigte Stadt aus Lehm, ist eine holly­wood­schön einen Hügel emporwuchernde Angelegenheit und eine anstren­gende, Luigi wußte es, Touristenfalle. Weil sie so hollywoodschön ist, hat Hollywood hier ungefähr zweieinhalbtausend Filme gefilmt, jedenfalls wenn man Mohammed glauben will, unserem neuen Zusatzguide mit ADHS-Problematik, der ununterbrochen Filmtitel herunterrasselt: Law­rence of Arabia, Die Mumie, Gladiator, Prince of Persia, Game of Thrones, Der Himmel über der Wüste sowieso; wenn er fertig ist, fängt er von vorne an. Schön ist, als er auf einen Lehmhubbel deutet und sagt, das gehöre zum Prinzen von Persien, und irgendjemand aus unserer Gruppe fragt, wie der denn hierhergekommen sei. Aber das Allerallerschönste ist das Tor, das so verfallen und malerisch am Ufer des Wadis steht, von dem Aït-Ben-Had­dou den Hügel hinauf zu wachsen beginnt. Kunstharz, sagt Moham­med, mit Lehm verkleidet. Überbleibsel eines Films. Ich bin hingerissen über diese Inszenierung, die nicht weniger glaubwürdig aussieht als die Stadt selbst, die übrigens, wie soviele Weltkulturerbestätten, von Souvenir­shops zerfressen ist wie von Ekzemen. Welch angenehmes Realitätsvertigo, über das ich noch beim trägen Lunch auf der Dachterrasse des echten Ortes am gegenüberliegenden Hügel grinse. Über das ich noch drei Wochen später grinse. Wir lunchen mit Blick auf Aït-Ben-Haddou und das gefakte Plastik­tor. Wie kann man eine Spezies nicht lieben die so bizarr ist wie die unsere.

    Spät erst brechen wir auf zu unserem letzten Programmpunkt, der Fint-Oase. Sie schmiegt sich mit einem schmalen Streifen üppiger Vegetation an ein Wadi, wo wir aussteigen und zu Fuß weitergehen, wenige Schritte durch Dattelpalmen und Blüten, Mohammed fängt eine schlanke Schlange aus dem Bewässerungskanal und jagt damit den Kindern einen Heiden­schrecken ein. Durch einen unscheinbaren Lehmmauereingang treten wir ein in Gastlichkeit, lassen uns auf Lungerlagern nieder, über eine Lichtkuppel fallen Sonnenstrahlen, wir bekommen Tee und Datteln serviert, es ist schön und ruhig und friedlich, alle beherrschen das, Schönheit, Ruhe, Friedlichkeit, nur ich bin zu unruhig, immer, ich kann nicht sagen warum. Ich geh ’n bißchen raus, sage ich zu Salma, und wenn du mich nicht wiedersiehst ... sind zehn bis zwanzig Prozent Verlust akzeptabel, ergänzt sie meinen Satz.

    Ich gehe raus, merke mir das unscheinbare Tor, gehe durch zwei, drei Gassen, schüttele zwei, drei Kinder ab. Das Dorf schmiegt sich an einen Hang. Der Hang, Schotter, reckt sich zu Felsen, ein Weg zeichnet sich ab zu einem Paß. Nichts Schöneres gibt es als Päße. Hinter jedem Paß eine Welt. Hinter jeder Welt eine weitere Welt.

    Vor unserem Abflug wird Luigi um ein Statement von uns allen bitten, für rein private Zwecke, er filmt uns mit seinem Smartphone, ich hasse sowas, mit mir fängt er an, ich mache Quatsch, Quatsch ist das einzige Sinnige, was Gott mir jemals in die Hand gegeben hat. Carsten, Liz’ Mann, sagt in des vor ihm knieenden Luigis Smartphone-Kamera, er habe in Noor eine fast religiös zu nennende Epiphanie erlebt. Er sei im Laufe der Jahre so pessimistisch geworden, was Technologie und unsere Zukunft angehe, diese Erfahrung aber habe ihm Hoffnung gegeben. Er führt das aus, wir alle hängen an seinen Lippen, thank you, sagt Luigi schließlich, you are an inspiration for me. Für mich auch, würde ich gerne sagen, wären nicht da nicht sofort all diese Zahlen, all diese Bilder, all diese Erfahrungen und Erwägungen, die mir sagen: Wir haben keine Chance.

    Knapp dreihundert Meter liegt der Paß über dem Dorf, schätze ich, ich gehe viel in die Berge, ich bin ganz gut im Distanzen schätzen. Daß ich auf dem Weg ebendort hinauf bin, merke ich hingegen erst relativ spät, muß so’n Automatismus sein. Ich bin den Schotterhang direktemang hinaufgekraucht, ein gerüttelt Stück, bevor mir klar wird, daß ich dort hoch will, zu diesem Paß. Wissen, welche Welt dahinter liegen mag. Ich quere zu dem Weg, der sich, angedeutet, in Serpentinen hinaufschlängelt. Ich habe ein schlechtes Gewissen, denn ich nehme an, Salma würde ein Sechstel Verlust doch nicht so einfach abschreiben, andererseits habe ich unten, tief unten, ich habe nicht bemerkt, wie hoch ich schon bin, die Geländewagen im Blick, wenn mein Rudel dort aufläuft, werde ich es sehen. Es ist immer noch heiß, und es weht ein Wüstenwind mit einer Ewigkeit und Indiffe­renz, wie es nur Winde aufbringen, die von sehr weit weg über allerhand Wüste kommen. Kurz bin ich fast glücklich, des Windes wegen, aber für’s Glücklichsein habe ich keine Zeit, ich will verdammt noch mal hoch zu dem Paß. Gewaltige Gesteinsbrocken sinnieren am Wegesrand. Die Sonne steht tief, wirft goldenes Licht und lange Schatten. Eine Oase kann man nicht begreifen, wenn man per Geländewagen angekarrt wird, sondern erst, wenn man sie von oben sieht, ein fragiles bißchen Leben, an der Biegung eines trockenen Wadis wuchernd. Am gegenüberliegenden Hang, entfernt, leuchtet etwas, das wie ein Heiligtum aussieht. Noch zehn, fünfzehn Minuten, und ich bin auf der Paßhöhe und werde sehen, welche Welt dahinter liegt.

    So wahrscheinlich sind wir, wir Menschen. Men go out into the void spaces of the world. Wir sind maßlos, immer gewesen. Wir sind schon vor Hunderten von Jahren durch diese tödlichen Wüsten geritten, auf unseren Kamelen, monatelang, weil dahinter Welten lagen, schön und lukrativ. Wir haben mit ungenügenden Schiffen die Ozeane besegelt, es riskiert, über den Rand der Welt zu fallen, und haben statt eines Randes eine neue Welt gefunden. Wir besteigen Berge, deren Gipfel in den Jetstream ragen – in Flughöhe der Flugzeuge, die wir erfunden haben, weil wir fliegen wollen – nur deshalb, weil sie da sind. Weil sie da ist, die Materie, die uns umgibt, aus der wir bestehen, bauen wir kilometerlange Teilchenbeschleuniger, zerlegen die Welt in Elementarteilchen, in Quanten, in Higgs-Bosonen, und fragen uns dann, was dahinter ist. Wir fliegen zum Mond und äugen von dort sehnsüchtig zum Mars hinüber. Wir hören die leisen, lockenden Stimmen. Auf dem Südpol steht eine Polarstation, ganzjährig bewohnt von Menschen, im Winter gleichen die Bedingungen denen einer Weltraum­station, wir machen das, weil wir es können. Wir errichten, weil wir selbst die Sonne uns zueigen machen, schimmernde Solarkraftwerke, erhabener und eindrucksvoller noch als jegliche Pyramide zu Ras Ehren, deren Heliostaten sich wie Pflanzen, wie wir, seit jeher, zur Sonne wenden. Wir pflanzen kleine Gewächse davor, die nicht gedeihen könnten, würden wir es nicht mit gewiefter Bewässerung erzwingen. Wenn wir Wasser brauchen, erschaffen wir einen See, tiefblau und lässig, uns doch egal, ob er inmitten einer Wüste zuliegen kommt. Vergeblichkeit ignorieren wir, wir wissen, daß wir zuviele sind, aber wir werden keinen von uns zurücklassen, wir werden, wenn wir können, jedes Kind impfen, jeden Grauen Star behan­deln, damit keiner von uns erblindet, jeden Hungernden speisen, jede Krankheit kurieren, wir werden die Flüsse stauen, die Berge durchtunneln, die Götter unterwerfen. We are shaping the chaos. Das ist, wer wir sind. Danebst werden wir uns unablässig Geschichten erzählen, Geschichten von Helden, Abenteuern und Gefahren, Geschichten von maßloser Größe; ist uns die Größe nicht groß genug, bauen wir majestätische Torbögen aus Plastik vor majestätische Historie. Und singen, weil uns aus unerfindlichen Gründen Musik ebenso innewohnt wie das haltlose Lachen über uns selbst. Welch ein Privileg müßte es sein, einer derart irren und gestörten und verlorenen und vollendet wunderschönen Spezies wie der unseren anzu­gehören.

    Wir errichten, weil wir selbst die Sonne uns zueigen machen, schimmernde Solarkraftwerke, erhabener und eindrucksvoller noch als jegliche Pyramide zu Ras Ehren, deren Heliostaten sich wie Pflanzen, wie wir, seit jeher, zur Sonne wenden.

    Unten, weit unten, sehe ich Gestalten an den Autos. Über mir der Paß, zehn, fünfzehn weitere Minuten würde ich brauchen. Aber fair wäre das nicht gegenüber meinem Rudel, ich kehre um, springe schnellstmöglich den Hang hinab, Abendsonne und Wüstenwind im Gesicht, denn natürlich ist der Prozentverlustscherz ein Scherz, wir lassen keinen zurück. Als ich unten bin, sind die anderen zwei Wagen schon abgefahren; Coffee? fragt Álvaro, nope, mountain, sage ich, another one of my manifold obsessions. Wir surfen zurück auf Wogen von Abendsonne und Mustaphas magischer Musik. Ich habe den Namen der Band längst erfragt und notiert – Tinariwen aus Mali –, sorge mich aber, das daheim vielleicht nicht zu bekommen. Ob ich einen USB-Stick dabeihätte, ich verneine, tja, dann dumm gelaufen, sagt Mustapha. Ich werde am nächsten Morgen früh aufstehen, unter dem Gezeter der Morgengrauenvögel in den Pool springen, dann das Filmmuseum besuchen, was offenbar, angesichts der Brüskiertheit der dortigen Faktoten, bislang niemand getan hat, und ebendort mich inmitten von Gips-und-Pappmache-Realitäten ergehen und ergötzen, bevor ich doch noch unter Schwierigkeiten einen USB-Stick kaufen werde. Parallele Ungleichzeitigkeiten. Filmmuseale Pappmache-Tempel gegenüber der Kasbah von Ouarzazate. Die Kasbah von Ouarzazate sieht nicht anders aus aus als das Ibis-Hotel, das 500 Meter weiter im Kasbah-Look erbaut ist. Polyestertorbögen als Eingang zu Ben-Haddou. Tassel­mante an der Peripherie von Noor. Kommt es darauf an? Real ist immer, was wir entschieden haben dafür zu halten.

    Dies ist die neue Stadt, sagt Mustapha. Wir fahren durch Quadratkilometer Wüste, die durchzogen ist von Straßen, Stromverteilerkästen und Straßen­laternen. Vielen, vielen Straßenlaternen, die über die artig asphaltierten Straßen wachen, die sich durch die Wüste winden, um den Straßenlaternen einen Sinn zu verleihen. Shaping the chaos. It’s not a city for people, erkläre ich, it is a city for street lanterns. Die Straßenlaternen werfen sehr lange Abendsonnenschatten und freunden sich mit dem Gedanken an. Mustapha lacht und wird mir morgen meinen leeren USB-Stick gegen den seinen tauschen, der voller Musik ist, so schön und sehnsüchtig, wie es nur Wüsten und Menschen sind. Ich werde heimfliegen, über Casablanca und Paris und auf Kosten der Erderwärmung, wie stets, und die Menschen gleichzeitig lieben und mit ihnen fremdeln, wie stets. Was mich über uns hinwegtrösten kann, sind vielleicht die Solarspiegel, die nicht zur Sonne sehen, sondern ineinander versunken sind, und die Stadt mit den unbefahrenen Straßen, die allein von Straßenlaternen bewohnt wird. Sie haben Zeit, hier in der Wüste, wo Korrosion nicht hektischer ist als Erosion. Wann werden sie anfangen, sich Geschichten zu erzählen, wann werden sie sich fragen, was hinter der Bergkette am Horizont liegt, wann werden sie beginnen zu singen?